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Doktor Proktors Zeitbadewanne

Doktor Proktors Zeitbadewanne

Titel: Doktor Proktors Zeitbadewanne
Autoren: Jo Nesbø
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er und stellte das Tablett schwungvoll auf den Tisch.
    Neun Minuten später saßen alle vier zurückgelehnt da, mit kugelrunden Bäuchen, ein seliges Lächeln im Gesicht.
    »Ich habe vorhin Jeanne angerufen«, sagte Juliette.
    »Leider hat sie die Stelle beim Friseur am Montmartre nicht bekommen. Der Friseur fand ihre Technik ein bisschen zu dramatisch. Und die Pottfrisur ist auch noch nicht wieder modern.«
    »Das kommt schon noch, reine Zeitfrage«, sagte Bulle.
    Die anderen drei antworteten nichts, blickten nur wortlos und skeptisch die knallrote Pottfrisur an, die Jeanne ihm mitsamt einem Kuss auf die sommersprossige Nase als Abschiedsgeschenk verpasst hatte.
    »Was denn?«, fragte Bulle. »Trendsetter müssen ihrer Zeit voraus sein, ist doch so.«
    »Wie auch immer«, gluckste der Professor. »Dafür hat sie eine andere Arbeit gefunden, was, Juliette?«
    »Ja«, sagte Juliette. »Als Fremdenführerin im Geschichtsmuseum des Schlosses von Versailles. Sie soll über das Mittelalter berichten, vor allem über die berühmte Jeanne d’Arc, die die Franzosen im Krieg gegen die Engländer anführte und zum Dank auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde. Die Museumsleitung war sehr beeindruckt von ihren Detailkenntnissen.«
    Der Professor räusperte sich: »Übrigens, was Freunde angeht, die wir zurücklassen mussten. Bevor ihr kamt, bin ich noch kurz in der Rosenkrantzstraße bei Uhren-Langfrakk vorbeigefahren.«
    Die anderen sahen ihn an.
    »Der Uhrenladen ist nicht da«, sagte Doktor Proktor. »Stattdessen eine alte Goldschmiedewerkstatt.«
    »Alt?«, rief Bulle. »Unmöglich! Freitag war der Uhrenladen doch noch da!«
    Der Professor nickte. »Ich weiß. Aber ein alter Taxifahrer, der an der Ecke wartete, sagte, die Goldschmiedewerkstatt sei da schon, seit er klein war. Und von einem Laden namens Langfrakk-Uhren hat er noch nie etwas gehört.«
    Schweigend hingen sie eine Weile ihren Gedanken nach. Als Lise noch einen Löffel Karamellpudding nehmen wollte, stellte sie zu ihrer Verwunderung fest, dass ihr Teller leer war. Sie sah Bulle an, der ihren Blick aus unschuldsblauen Augen erwiderte, die Backen allerdings ballondick aufgebläht, und versuchte hinunterzuschlucken.
    »Bulle!«, sagte sie. »Du hast mir meinen Pudding geklaut!«
    Er antwortete etwas, das allerdings in dem Pudding ertrank, der ihm schon aus den Mundwinkeln quoll.
    »Hä?«, fragte Lise.
    Bulle legte den Kopf in den Nacken und wiederholte: »Vrrklag msch dch!«
    Da konnten der Professor, Juliette und auch Lise nicht anders und mussten furchtbar lachen.
    Und dann besprachen sie miteinander all das Fantastische, das sie in den letzten beiden Tagen erlebt hatten. Oder in den letzten neunhundert Jahren. Wie man’s nimmt. Wie Bulle eine Etappe der Tuhr dö Franss gewonnen und die Schlacht von Waterloo abgeblasen hatte. Wie Lise den Eiffelturm entworfen und einen enormen Scheiterhaufen ausgefurzt hatte. Wie Doktor Proktor um Haaresbreite geköpft worden wäre, aber dann hatte man ihn mit der Trompete gerettet. Und darüber, dass Juliette endlich frei war und Claude Cliché nie wiedersehen musste.
    »Prost!«, sagte Doktor Proktor feierlich und alle erhoben ihre Gläser mit Birnensaft. »Die Geschichte kann man vielleicht nicht verändern. Aber die Zukunft, die schon.«
    Und darauf tranken sie. Die Zukunft dieses Karamellpuddings und dieses Sonntags, die war jetzt allerdings vorbei. Das Tablett war ratzeputzeleer, der Mond war aufgegangen und die Vögel, die sich im Birnbaum niedergelassen hatten, um die ganzen fantastischen Abenteuer mitzuhören, gähnten schon.
    Also wünschten sie einander eine gute Nacht. Doktor Proktor und Juliette gingen in das blaue Haus, Lise in das rote und Bulle in das gelbe.
    In ihrem Zimmer dachte Lise über den verschwundenen Uhrenladen nach, den es angeblich nie gegeben hatte. Da fiel ihr etwas ein. Sie holte ihr Geschichtsbuch aus dem Ranzen und blätterte es durch, bis sie das Kapitel über Jeanne d’Arc mit dem berühmten Gemälde von der Verbrennung auf dem Scheiterhaufen gefunden hatte. Und sie schnappte erschrocken nach Luft, obwohl sie das, was sie da sah, erwartet hatte.
    Das Bild hatte sich verändert.
    Die Frau darauf hatte kein langes rotbraunes Haar mehr, sondern es war kohlpechrabenschwarz. Sie hatte rot angemalte Lippen, lange, rot lackierte Fingernägel und das da, unter dem Kleid, war das nicht...ein Rollschuh?
    Lise schluckte und dachte an Raspa, die ihr Leben für die Liebe hingegeben und damit vielleicht
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