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Doktor Proktors Zeitbadewanne

Doktor Proktors Zeitbadewanne

Titel: Doktor Proktors Zeitbadewanne
Autoren: Jo Nesbø
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Federn protestierten kreischend, als wollten sie Bulle und Lise lieber nicht einlassen. Als die beiden endlich drinnen waren und die Tür losließen, krachte sie hinter ihnen mit einem bösartigen Knall ins Schloss. Auf einmal waren sämtliche Straßengeräusche abgeschnitten, nur noch das Ticken der Uhren war zu hören. Tick-tack-tick-und-so-weiter. Sie sahen sich um. Draußen schien die Sonne, aber in dem menschenleeren Laden herrschte ein seltsames Dämmerlicht. Es war, als wären sie unvermittelt in einer anderen Welt gelandet. Hunderte Uhren mussten hier stehen! Sie waren überall, an den Wänden, in Regalen, auf Wandborden.
    »Hallo!«, rief Bulle.
    Keine Antwort.
    »Die Uhren sehen so alt aus«, flüsterte Lise. »Und so merkwürdig. Schau mal, die da. Der Sekundenzeiger – der geht doch rückwärts!«
    In diesem Moment durchdrang ein schrill klagendes Quietschen wie von ungeölten Rädern das Ticktack.
    Bulle und Lise starrten in die Richtung, aus der das Geräusch kam – ganz hinten im Laden, wo ein orangefarbener Vorhang mit dem Bild eines Elefanten darauf hing.
    »Wer . . .«, wollte Lise flüstern. Doch da wurde der Vorhang beiseitegerissen.
    Lise und Bulle schnappten nach Luft. Eine Gestalt kam auf sie zugerast. Eine groß gewachsene Frau – größer als alle Menschen, die sie je gesehen hatten – und alles an ihr war lang, dünn und spitz. Abgesehen von der Haarpracht, die aussah wie einer jener kugelrunden Wüstensträucher, die Wurzeln schlagen, wo immer der Wind sie hintreibt. Dieser Kugelstrauch hier hatte über einem Gesicht Wurzeln geschlagen, dessen Haut dermaßen straff gespannt war, dass man unmöglich das Alter dieser Erscheinung erraten konnte. Außerdem war es reichlich mit schwarzer Schminke dekoriert, die dünnen Lippen waren mit knallrotem Lippenstift angemalt. Diese Frau trug einen eleganten, glänzenden, schwarzen Ledermantel; er war nicht zugeknöpft, sodass man den Grund sowohl für das schrille Quietschen als auch für die Geschwindigkeit erkennen konnte, mit der sie herangesaust kam. Sie trug nämlich ein Holzbein, an dessen Ende statt eines Fußes ein Rollschuh befestigt war, der ganz offensichtlich eine Portion Schmieröl vertragen hätte. Mit dem anderen Fuß stieß sie sich ab, legte kurz vor Lise und Bulle eine Vollbremsung hin, starrte feindselig auf sie hinunter und sagte mit einer Stimme, so heiser und krächzend, dass es klang wie Wind in einer alten Bretterbude:

    »Ihr seid hier falsch, Kinder. Macht, dass ihr rauskommt.«
    Erschrocken machte Lise einen Schritt in Richtung Tür, sowohl wegen des unheimlichen Äußeren der Frau als auch wegen ihres Mundgeruchs. Ihr Atem stank nach rohem Fleisch und alten Socken. Bulle hingegen blieb un- beeindruckt stehen und schaute neugierig zu der Frau im Ledermantel hoch.
    »Warum geht die Uhr da rückwärts?«, erkundigte er sich und deutete mit dem Finger an die Wand hinter ihrer Schulter.
    Ohne sich umzudrehen, antwortete die Frau: »Sie misst die Zeit bis aller Zeiten Ende. Und für euch ist dieses Ende jetzt. Raus!«
    »Und die da?« Bulle deutete auf eine andere Uhr. »Die geht gar nicht. Verkaufen Sie kaputte Uhren?«
    »Unsinn!«, sagte sie. »Diese Uhr behauptet, die Zeit stehe still. Und wer weiß – vielleicht tut sie das ja auch.«
    »Die Zeit kann ja wohl nicht stillstehen«, sagte Lise, die ihre Fassung wiedererlangt hatte.
    Die Frau richtete den Blick scharf auf sie. »Du dummes Ding hast ganz offensichtlich keine Ahnung von der Zeit, also solltest du deinen hässlichen Mund lieber nicht aufmachen. Alles in der Geschichte geschieht zugleich und immer wieder, unaufhörlich. Nur fehlt den meisten Menschen der Verstand, um alles auf einmal wahrzunehmen, darum denken sie, es geschehe alles nacheinander. Ticktack, tick-tack. So, jetzt habe ich keine Zeit mehr für Schnickschnack. Macht keine Zicken, raus, zack!« Sie machte auf dem Rollschuh kehrt und hob den anderen Fuß, um sich abzustoßen.
    »Äußerst widersprüchlich«, sagte Bulle. »Wenn die Zeit stillsteht, hast du alle Zeit der Welt.«
    Langsam drehte die Frau sich wieder zu ihnen um. »Hm. Der Zwerg hat vielleicht kein Zwergenhirn. Trotzdem müsst ihr jetzt gehen.«
    »Wir haben eine Briefmarke zu verkaufen«, sagte Bulle.
    »Interessiert mich nicht. Raus.«
    »Aus dem Jahre 1888«, sagte Lise. »Und sie ist fast wie neu.«
    »Fast wie neu?« Die Frau zog eine Augenbraue hoch, die aussah wie ein mit spitzem Bleistift gezogener, haarfeiner Strich. »Lass
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