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Digitale Demenz: Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen (German Edition)

Digitale Demenz: Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen (German Edition)

Titel: Digitale Demenz: Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen (German Edition)
Autoren: Manfred Spitzer
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gewissermaßen die Güte der kognitiven Landkarte, spielt also eine wichtige Rolle in der Bestimmung des eigenen Ortes in der Welt. Menschen, die in dieser »Weltsicht« sozialisiert sind, betrachten den Raum, ihre Welt, in einer ganz bestimmten Weise – etwa so, wie Schachspieler die Figuren auf dem Brett auf ganz besondere Weise betrachten oder wie Musiker ihre Instrumente in besonderer Weise erleben. Es geht in diesem Zusammenhang keineswegs nur um ein paar Namen für Raumrichtungen: Vielmehr durchzieht das geozentrische Sanskrit-Raumverständnis viele Aktivitäten des täglichen Lebens, sowohl in der Schule als auch im familiären Umfeld, die durch religiöse und kulturelle Praktiken gemeinschaftlich eingeübt und damit intensiv gelernt werden.

2.3 Lotosblüten (links) haben keineswegs immer acht Blätter. Werden sie jedoch stilisiert als Mandala dargestellt, dann geschieht dies meist in Form von acht Blütenblättern, mit denen die acht Himmelsrichtungen symbolisiert werden (Beispiele Mitte und rechts) .
    Bei Kindern in Sanskrit-Schulen ist die Vermittlung von Wissen über die acht Himmelsrichtungen ein sehr aktiver Prozess. Ihnen werden nicht nur die Richtungen im Raum und ihre kulturelle Bedeutung vermittelt; sie werden vielmehr auch angehalten, sie in ihren alltäglichen Übungen wie beispielsweise beim Morgen- und Abendgebet anzuwenden, und sie werden entweder vom Lehrer oder von älteren Schülern hierbei genauestens angeleitet. Bei Fehlern werden die Schüler korrigiert und dahingehend unterwiesen, wie sie Fehleinschätzungen der Himmelsrichtung künftig vermeiden können. [37]  
    Fragt man zehn- bis vierzehnjährige Schüler aus Sanskrit-Schulen nach den Himmelsrichtungen im Freien oder sogar in einem geschlossenen Raum, so können 87 Prozent von ihnen richtige Angaben machen, Hindi-Mittelschüler hingegen nur in 43 Prozent der Fälle. [38]   Eine weitere Studie bestätigte dies auf noch eindrucksvollere Weise: Zunächst wurden 51 indische Schulkinder im Alter von elf bis fünfzehn Jahren nach den Himmelsrichtungen gefragt – erst im Freien und dann im Raum –, und alle machten sie richtige Angaben. In einer ähnlichen, in Genf durchgeführten Studie konnte im Testraum kein einziges Kind die Himmelsrichtungen angeben. [39]   Daraufhin wurde das Experiment gesteigert: Man verband den Kindern die Augen und drehte sie dreieinviertel Drehungen im Kreis. Auch danach waren noch 80 Prozent der Sanskrit-Schüler in der Lage, die Himmelsrichtungen korrekt anzugeben. Dann wurden sie – immer noch mit verbundenen Augen – um ein paar Ecken in einen anderen Raum geführt und nochmals dreieinviertel Mal gedreht und wieder nach den Himmelsrichtungen befragt. (Man achtete in allen Fällen darauf, dass die Kinder nach den Drehungen nicht in der gleichen Richtung standen wie vorher und dass der Versuchsleiter, der die Kinder drehte und mit ihnen sprach sowie sie über die Richtungen befragte, nicht am gleichen Ort stehen blieb.) Auch danach konnten noch 56 Prozent der Kinder die Aufgabe lösen – also nach Verblindung, einer Dreieinvierteldrehung, dem Wechsel in einen zweiten Raum um einige Ecken und nach einer weiteren Dreieinvierteldrehung um die eigene Achse und noch immer mit verbundenen Augen! Wer seine Schulzeit in einer Sanskrit-Schule verbracht hat, der nimmt die Himmelsrichtungen gleichsam immer mit sich mit, und zwar in 45-Grad-Feineinteilung, und er verfügt daher über ein sehr verfeinertes Orientierungsvermögen. Diese Experimente zeigen, was mittlerweile in der gesamten Neurowissenschaft die Spatzen von den Dächern pfeifen: »Auf die Dauer nimmt die Seele die Farben deiner Gedanken an«, wie schon der römische Kaiser Marc Aurel bemerkte. Er wusste zwar nichts von Neuroplastizität – aber recht hatte er!

Training: Neuronen wie Muskeln
    Zurück zu meinem gestohlenen Navigationsgerät. Ich erlebte unfreiwillig, was es bedeutet, sich als Autofahrer längere Zeit nicht darum gekümmert zu haben, wo man eigentlich ist. Ich hatte diese Aufgabe einer Maschine übertragen, die mir mit einer angenehm sanften – um nicht zu sagen: »einlullenden« – Frauenstimme mitteilte, wo es langgeht. Ich hatte diese früher von mir selbst vollbrachte geistige Leistung der Orientierung und Navigation also ausgelagert, etwa so, wie man das Treppensteigen mittels Rolltreppe oder Fahrstuhl auslagern kann. Wer das häufig tut, der kommt bequem und ohne Schnaufen in den dritten Stock, braucht sich aber
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