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Digitale Demenz: Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen (German Edition)

Digitale Demenz: Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen (German Edition)

Titel: Digitale Demenz: Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen (German Edition)
Autoren: Manfred Spitzer
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Medizinstudent lernt: Wer die letzte Frage nicht beantworten kann, ist geistig ziemlich schlecht dran. Wenn jemand weiß, wer er ist, aber nicht weiß, wo er gerade ist, dem geht es auch nicht wirklich gut. Wer dagegen nur nicht weiß, welches Datum wir gerade haben, könnte zwar geistig gerade nicht ganz auf der Höhe sein – oder aber einfach nur im Urlaub! Denn im Urlaub ist vielen Menschen die Zeit völlig egal, und das ist auch gut so. Wem die Zeit im Urlaub nicht egal ist, der befindet sich vielleicht sogar während seines Urlaubs – zumindest im Kopf – in der Firma bei der Arbeit.
    Die zeitliche, örtliche und personale Orientierung gehörten zu unseren geistigen Grundfähigkeiten; bei Patienten mit Demenz nimmt sie in genau dieser Reihenfolge ab – Zeit, Ort, Person. Natürlich kann auch jemand, der schon stark geistig beeinträchtigt ist, auf seine Uhr schauen (sofern die Person eine hat und weiß, wo sie sich befindet) und mir die Uhrzeit sagen. Aber das ist nicht entscheidend: Es geht vielmehr darum, dass bei zunehmendem geistigem Verfall das Bemühen, die Kontrolle über sich und sein Leben zu haben, und das Bewusstsein dafür, in welchen Zusammenhang die Situation hier und jetzt eingebettet ist, nachlässt: Wer dement ist, kümmert sich weniger um Datum und Uhrzeit. Diese Person geht seltener aus dem Haus, versteht ihre Umwelt immer schlechter – die unmittelbare Umgebung und die große weite Welt sowieso – und begreift irgendwann auch sich selbst nicht mehr so gut, weil sie sich immer weniger merken kann. Am Ende bleibt nur noch eine Hülle, das Äußere des Menschen; sein Geist jedoch, seine unverwechselbare Persönlichkeit, seine Besonderheiten und Eigenarten, seine Geschichte sind verloren.
    Nicht nur die Person geht »verloren«, die mit ihr verbundenen Sachverhalte auch. Wer an Demenz leidet, der weiß auch nicht mehr, worum es geht; er vergisst, was er gerade tun wollte, macht vieles mehrfach und merkt nichts davon. Auch der Bezug zu anderen Menschen löst sich langsam auf, zuerst zu den Bekannten aus der jüngeren Vergangenheit, bis am Schluss auch der Ehepartner oder die eigenen Kinder nicht mehr erkannt werden. Gleichzeitig erlischt das Bewusstsein für Vergangenheit und Zukunft: Demenzpatienten leiden nicht einfach nur unter zeitlicher Desorientiertheit (ein Frühsymptom), sondern unter der völligen Auflösung jeglicher Zeitlichkeit mit der Folge, dass sie nur noch von Augenblick zu Augenblick leben, wobei die wachen Momente nicht durch ein permanentes Bewusstsein verbunden sind, sondern disparat nacheinander ablaufen. Es ist übrigens müßig, sich zu fragen, was zuerst kommt, das Sich-nicht-Kümmern oder das Nicht-daran-Denken oder das Verschwinden der Menschen und Dinge – es bedingt sich alles wechselseitig.
    Wie stark gerade die Leistung der räumlichen Orientierung vom Lernen abhängig ist, zeigen nicht nur die Londoner Taxifahrer. Auch bei ganz normalen Kindern unterschiedlicher Herkunft lässt sich sehr schön zeigen, dass die Orientierung im Raum mehr oder weniger gut beherrscht wird – je nachdem, welches Training man hatte. Kinder und Jugendliche, die in indischen Sanskrit-Schulen aufwuchsen, schneiden in Tests über die Orientierung im Raum besonders gut ab. Warum ist das so? Wie Latein ist Sanskrit eine tote Sprache aus der indogermanischen Sprachfamilie, doch ist sie nach wie vor eine von insgesamt 22 anerkannten Nationalsprachen in Indien und wird in den meisten indischen Schulen der Sekundarstufe nach Hindi und Englisch als dritte Sprache gelehrt. Sanskrit ist mehr als 3000 Jahre alt, wurde in verschiedenen Schriften geschrieben und mehrere Jahrhunderte vor Christi Geburt bereits systematisiert. Bei den Hindus gilt sie als heilige Sprache und wird im Rahmen religiöser Rituale bis in die Gegenwart verwendet, denn alle wichtigen religiösen Schriften (die Veden und die Upanishaden) sind in Sanskrit verfasst. Die älteste der vier Veden ist die Rig-Veda, eine religiöse Schrift über Götter, Mächte, Kräfte und die Natur, in der – wie in der übrigen Sanskrit-Literatur auch – der Raum in zehn Raumrichtungen aufgeteilt ist: Neben oben und unten gibt es acht Himmelsrichtungen, also nicht nur Nord, Süd, Ost und West, sondern auch Nordost, Nordwest, Südost und Südwest. Die geistige Kodierung des Raumes ist daher bei Menschen, die eine gründliche Ausbildung in Sanskrit erfahren haben, durch dieses Schema der acht Himmelsrichtungen geprägt. Es bestimmt
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