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Diesseits von Eden: Neues aus dem Garten (German Edition)

Diesseits von Eden: Neues aus dem Garten (German Edition)

Titel: Diesseits von Eden: Neues aus dem Garten (German Edition)
Autoren: Wladimir Kaminer
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dauern. Die Mayas konnten vieles nicht voraussehen, es werde immer mal wieder ein weiteres Stück der uns bekannten Welt fehlen. Mal verschwänden vielleicht die Pinguine am Südpol, mal die Eisbären am Nordpol, der Himmel werde immer seltener blau, nicht alle Bäume jedes Jahr grün, und irgendwann einmal würden wir auch selbst fehlen, so lautete das Fazit der Weisen.
    Dessen ungeachtet ging das menschliche Treiben weiter wie bisher. Die Deutschen liehen den Griechen Geld und den Türken Boden-Luft-Raketen, verbaten sich gesetzlich Sex mit Tieren und wollten aus Afghanistan abmarschieren. Die Politik ist hierzulande aber zuletzt sehr kreativ geworden. Es würde sich niemand wundern, wenn demnächst die Griechen die Raketen und die Türken das Geld bekämen, Kuschelsex mit Tieren als Pflichtfach in der Grundschule eingeführt und in Afghanistan wieder einmarschiert würde. Die Politik hat für alles eine Erklärung parat. Und am interessantesten werden die Menschen, wenn sie durchdrehen. In Moskau, so berichtete mir ein Freund, hatte jemand aus Spaß in einem Wohnhaus den Strom abgedreht. Alle Bewohner schrien wie verrückt und liefen halbnackt auf die verschneite Straße. Und viele Mieter versuchten verzweifelt, in extrem kurzer Zeit sehr viel Geld auszugeben, was zu regelrechten Staus in einigen Nobelrestaurants führte.
    Ich glaubte, wie gesagt, kein bisschen an diesen Untergangsquatsch. Für alle Fälle fuhren wir trotzdem an dem fraglichen Tag aufs Land. Man konnte ja nie wissen. Die Familie war einstimmig dafür, sogar unsere Kinder, die keine Kinder mehr sind, sondern ausgewachsene Erwachsene, die dummerweise nichts allein unternehmen dürfen, weil sie noch keine achtzehn Jahre alt sind. Sogar sie beschlossen ausnahmsweise, mit uns aufs Land zu fahren. Nur bestanden sie darauf, noch am gleichen Abend zurück nach Berlin gebracht zu werden. Sie hatten Angst, ihre angesagten Facebook-Weltuntergangspartys zu verpassen.
    Nach den Berechnungen des Maya-Kalenders in der russischen Version sollte der Weltuntergang um 10.00 Uhr früh stattfinden. Dazu sollte ich die Zeitverschiebung und die dort fehlende Winterzeit einrechnen. Bei den Russen passiert alles früher als in Mitteleuropa, das heißt, wenn sie schon untergegangen sind, wird in Europa noch auf den Tischen getanzt. Oder sollte man umgekehrt rechnen? Eigentlich ist es in Moskau, wenn ich dort anrufe, immer später als in Berlin. Andererseits, wenn wir Silvester feiern und kurz vor Mitternacht dort anrufen, um zu gratulieren, sind die Russen schon längst mit dem Feiern durch und unterm Tisch.
    Nach meinen, sicherlich falschen Berechnungen sollte der Weltuntergang in Brandenburg um 13.00 Uhr eintreten. Wir setzten uns ins Auto und fuhren über leere Landstraßen. Auch die Dörfer, durch die wir kamen, wirkten verlassen, als hätte der Untergang bereits alle Bewohner Brandenburgs vorzeitig dahingerafft. Einen kurzen Moment lang hatte ich Zweifel, ob ich nicht tatsächlich den Termin falsch ausgerechnet hatte und wir die einzigen Überlebenden waren, mein Auto eine Art Arche, die statt auf dem Berg Ararat in Glücklitz landete. In meiner Verzweiflung stellte ich das Radio an, in der Angst, auf allen Kanälen nur das Rauschen des Weltalls zu hören. Doch das Radio sprach Gott sei Dank noch laut und deutlich. Der Brandenburger Rundfunk befragte seine Korrespondenten in aller Welt, was es Neues gäbe. Der Neuseeland-Korrespondent berichtete mit fröhlicher Stimme, gar nichts sei weg, alles sei wie immer da: das Wasser mit 23 Grad, die Luft mit über 30. Dabei war Neuseeland als erstes Land schon durch den Weltuntergang hindurchmarschiert. »Ist denn bei euch gar nichts anders geworden? Nicht einmal ein bisschen?«, bohrte der Moderator der Sendung nach. Er hörte sich deutlich enttäuscht an. In Australien sonnten sich die Menschen ebenfalls am Strand.
    In Glücklitz lag Schnee. Anders als in Berlin war er hier weiß und kuschelig. Er lag auf den abgeernteten Maisfeldern, auf den Dächern der Häuser, der Kirche und der freiwilligen Feuerwehr. Auf Bäumen und Wegen, auf den Grabsteinen am Friedhof, überall lag Schnee. Und kein Mensch hatte auf diesem Schnee einen Fußabdruck hinterlassen, nicht einmal ein Pferd. Der See war eingefroren und unser kleiner Teich direkt am Haus ebenfalls. Als Erstes lief ich mit der Axt zum Teich, um das Eis einzuschlagen und den Fischen ein wenig Sauerstoff zu verschaffen. Wir besaßen seit dem Sommer lebende Fische im Teich.
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