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Diesseits von Eden: Neues aus dem Garten (German Edition)

Diesseits von Eden: Neues aus dem Garten (German Edition)

Titel: Diesseits von Eden: Neues aus dem Garten (German Edition)
Autoren: Wladimir Kaminer
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postsozialistischen Gastronomie.

Der Weltuntergang wurde verschoben
    Mit großer Neugier, Aufregung und Partys steuert die Menschheit jeden Winter ihrem Untergang entgegen. Bloß dieses Jahr hatte der zu erwartende Weltuntergang eine ziemlich miserable Grundlage – das Ende des Maya-Kalenders. Die Vorstellung, dass diese Indianer, die weder Schießpulver noch Eisen gekannt hatten, die keine Ahnung gehabt hatten, welche Form und welches Gewicht unsere Welt besaß, dass diese Menschen also irgendwelche speziellen Kenntnisse von deren Ende besaßen, war komisch. Die Erklärungen waren auch nicht besonders überzeugend, doch wie die Russen sagen: In einer Pfütze wird selbst ein Frosch wie ein Goldfisch behandelt. Weil wir chronisch an mangelnden Kenntnissen über unsere Zukunft leiden, haben wir das Ende des Indianer-Kalenders ernst genommen.
    Besonders die Vertreter der Kirche taten sich mit bösen Warnungen hervor, besteht doch jede Weltreligion im Wesentlichen aus der Vorbereitung auf den einen oder anderen Weltuntergang und dem damit verbundenen Letzten Gericht, das aber nie zusammentritt, beziehungsweise ständig verschoben wird. Die Gläubigen treibt das nicht selten in den Wahnsinn oder versetzt sie in einen permanenten Warnblinkzustand. Sie blinken nach allen Seiten wie ein gefährlich geparktes Auto. Alle, die an solch einem Auto vorbeifahren, denken, hier wird sicher bald etwas passieren. Der Papst rief alle Menschen auf, angesichts des nahenden Unterganges gemeinsam zu beten und sich zu versöhnen. Die Protestanten behaupteten, die einzige Rettung sei, bis zum letzten Atemzug Gutes zu tun. Der Dalai-Lama, der fröhlichste und gleichgültigste von allen, sagte, jeder Untergang einer Welt bedeute gleichzeitig einen Neuanfang für eine andere, es drehe sich sowieso alles im Kreis.
    Die Russisch-Orthodoxen rieben sich die Hände. Schluss mit der Warterei!, sagten sie, die Verzweiflung ist groß! Endlich wird der Mensch aus diesem Dreieck von Glaube, Liebe und Hoffnung befreit. Denn er hofft stets auf das Nebensächliche, zum Beispiel einen Sechser im Lotto zu gewinnen, er liebt das Falsche, zum Beispiel Bier und Fußball, und er glaubt an jeden Quatsch, zum Beispiel an Außerirdische. Wenn aber das Ende der Welt tatsächlich eintritt, wird er nicht mehr hoffen können oder glauben müssen. Er wird es lieben.
    Die Russen bereiteten sich zu dem angesagten Datum, dem 21. Dezember, besonders gründlich auf das Ende vor. Meine Freunde, alles große Spezialisten in Untergängen aller Art, empfahlen uns eindringlich, an dem Tag aufs Land zu fahren, am besten in unseren Garten, und dort ein Lagerfeuer anzuzünden. Ganz egal, ob man an die Sache glaube oder nicht, ein paar Streichholzschachteln mehr, ein paar Kerzen, Seife, Trockenbrot, Fleischkonserven und Alkoholika könnten nie schaden. Man könne sie zur Not ja auch nach dem Weltuntergang noch verbrauchen.
    Ich glaubte zwar durchaus, dass unsere Welt irgendwann zu Ende gehen würde – wir leben in einer sehr unbeständigen Welt, kaum etwas ist hier von Dauer und gar nichts hält ewig –, doch an der Richtigkeit des Maya-Kalenders hatte ich große Zweifel. Grundsätzlich konnte ich mir nicht vorstellen, dass sie so weit, bis in unsere Tage, rechnen konnten und das auch noch richtig. Schließlich verschätzten sich auch die Russen stets in allen ihren Voraussagen. Sie hatten sich mit ihrer Monarchie verschätzt – plötzlich wollte der Zar kein Zar mehr sein –, und sie hatten sich mit dem Kommunismus verschätzt, weil ihnen das, was es im Kommunismus umsonst gab, nicht gefallen hat. Und genauso haben sie sich mit dem Kapitalismus verschätzt, bei dem es gar nichts mehr umsonst gab. Warum sollten sich also die Mayas bei der Weltuntergangsfrage nicht auch verschätzt haben?
    In Deutschland redete man wie immer viel sachlicher und tiefgründiger darüber als in Russland. Nicht nur die Kirchenmänner, auch Künstler, Intellektuelle und Politiker, alle versuchten in den Talkrunden als Weise einander über dieses Thema aufzuklären. In der Wahrnehmung der Untergangsfrage waren sie sich ziemlich einig. Alle sagten, der Untergang sei kein Event und keine Party, das passiere nicht von einem Tag auf den anderen. Er sei vielmehr ein Prozess. Ein langer Weg führe dorthin, der viel an Umweltverschmutzung, an politischer Inkompetenz, zwischenmenschlichen und religiösen Konflikten, Kriegen und Versagen politischer Parteien benötige. Es werde also noch eine Weile mit uns
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