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Diesseits von Eden: Neues aus dem Garten (German Edition)

Diesseits von Eden: Neues aus dem Garten (German Edition)

Titel: Diesseits von Eden: Neues aus dem Garten (German Edition)
Autoren: Wladimir Kaminer
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diese Briefe antworten? Was schrieb er an diese Armee hundert Jahre alter Zwölfjähriger, die niemals hungern und sich mit atemberaubender Geschwindigkeit in fremden Galaxien ausbreiten wollen? Nein, lieber in Brandenburg alt werden, statt ewig jung auf einem fremden Planeten, meinte unsere Freundin aus Himmelpfort.
    Aus Berlin kommen häufig Frau Müller und ihre drei Freundinnen zu uns auf Besuch. Sie laufen sofort als Erstes Schwäne gucken. Neben der alten Ziegelei am verwilderten Ufer des Glücklitzer Sees haben sich zwei ein Nest gebaut. Ich glaube, sie sind aus dem Nachbardorf geflohen. Dort ziehen jede Woche Touristengruppen vorbei, es gibt drei Seen, und die Gemeinde bemüht sich sehr, die Natur unter Kontrolle zu halten. Überall hat man selbst gebastelte Verbotstafeln in die Landschaft gestellt, um den Menschen klarzumachen, was sie alles nicht dürfen. Die meisten Verbote kreisen um die Themen »Nicht klettern« und »Füttern verboten«. Auf dem letzten Schild ist sehr realistisch ein durchkreuzter Schwan abgebildet.
    Die Vögel sind nicht dumm. Selbst wenn sie nicht lesen können, verstehen sie die Zeichen gut. Wahrscheinlich dachten die zwei Schwäne, die gesetzestreuen Deutschen würden sie verhungern lassen, und siedelten zu uns über. Hier stört sie keiner. Und wenn uns Frau Müller mit ihren Freundinnen besuchen kommt, gehe ich mit ihnen Schwäne füttern.
    Diese Frauen haben in gewisser Weise ihre Laufbahn selbst als Schwäne angefangen. Frau Müller kennen wir seit bald zwanzig Jahren. Sie ist ungeheuer biegsam und könnte sich, wenn sie es wollte, mit dem großen Zeh des rechten Fußes am Hinterkopf kratzen. Das macht sie natürlich nicht, um die Menschen nicht zu erschrecken. Aber die Grazie, mit der sie sich bewegt, lässt sofort die ehemalige Ballerina erkennen. Auch ihre Freundinnen Stella, Natella und Leila waren Balletttänzerinnen. Sie stammen alle aus der gleichen Stadt, aus Baku, der einstigen Hauptstadt der sozialistischen Republik Aserbaidschan, wo alle vier die Ballettschule besuchten.
    Baku war zwar sozialistisch, aber schon damals eine stark durch die Sitten der Muslime geprägte Region. Männer schätzten bei Frauen nicht in erster Linie die Schönheit oder Fröhlichkeit, die Jungfräulichkeit war ihnen das Wichtigste. Diese Männer hatten von Frauenrechten nie etwas gehört. Jedes Mädchen war verpflichtet, bis zur Hochzeit und auch danach lange Röcke zu tragen und stets zu Boden zu schauen. Es durfte nicht einmal in der Öffentlichkeit lächeln. Wer Zähne zeigte, wurde als Nutte abgestempelt. Es gab keine Diskotheken und keine Klubs, und in den Kinos ging das Licht im Saal niemals aus.
    Die Ballettschule, die dem Theater gehörte, war in dieser strengen schwarzen Stadt ein kleiner Tunnel, der zum Licht führte. Frau Müller und ihre drei Freundinnen liebten das Ballett. Sie tanzten jeden Tag nach der Schule auf der großen Bühne des Theaters. Allerdings haben die jungen Frauen es nie zu einer großen Solokarriere gebracht. Die eine war etwas zu mollig, die andere konnte nicht hoch genug springen, bei der dritten waren die Beine vielleicht einen Millimeter zu kurz und bei der vierten die Brüste etwas zu umfangreich. Der Höhepunkt ihrer Karriere war der Tanz der kleinen Schwäne im Schwanensee. Frau Müller war der zweite von rechts.
    Auf der anderen Seite der Stadt befand sich die Internationale Akademie der Kriegsmarine. Dort wurden die zukünftigen Marineoffiziere aus den Ländern des sozialistischen Lagers ausgebildet, unter anderen mehrere Deutsche aus der ehemaligen DDR . Die DDR war nicht nur der verlängerte Arm des sowjetischen Regimes, ein Vorposten der Russen in Europa, sie war nebenbei auch ein unabhängiger Staat mit Zugang zum Meer und einer eigenen Kriegsmarine mit schweren Kreuzern, U-Booten und dazugehörigen Kapitänen, die in Baku ihre Ausbildung absolvierten. Am Wochenende saßen die Jungoffiziere ratlos vor ihrer Kaserne und wussten nicht, wohin mit sich. Die Gürtelschnallen glänzten, die Schuhe ebenfalls, die Uniform, die wie angegossen saß, machte besondere Menschen aus ihnen. Von der Leitung der Akademie bekamen sie zwar Ausgang in die Stadt genehmigt, doch die Aussicht, wieder nur allein am Ufer spazieren zu gehen und später in der Kantine Tee zu trinken, war frustrierend. Zum Teetrinken war die Uniform einfach zu schade.
    Mehr aus Verzweiflung denn aus Interesse an der Kunst landeten so vier ostdeutsche Offiziere der Kriegsmarine in einer
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