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Diesseits von Eden: Neues aus dem Garten (German Edition)

Diesseits von Eden: Neues aus dem Garten (German Edition)

Titel: Diesseits von Eden: Neues aus dem Garten (German Edition)
Autoren: Wladimir Kaminer
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Ziegelsteinruine, wo es keine Polizei und keine Nachbarn gab, die einem ständig die Musik leiser drehen wollen. Tausende Raver aus dem ganzen Land wurden zu dem Event erwartet. Der aber wurde aus technischen Gründen vorzeitig abgebrochen, denn gleich in der ersten Nacht fuhr der von Herrn Köpke und den anderen Dörflern engagierte Landwirt aus dem Nachbardorf um vier Uhr früh auf einem Traktor mit Anhänger um den Geheimtipp herum und verteilte zwei Tonnen Gülle, die bestialisch stank. Die Musikliebhaber hatten keine Gasmasken, sie waren auf eine solche Entwicklung nicht vorbereitet gewesen und ergriffen die Flucht. Zurück blieben viele leere Cola- und Jägermeister-Fläschchen – angeblich das Lieblingsgetränk der Technoszene – sowie viele gefährliche Piercingteile im Gras. Ich habe mich zwei Monate später auf der Wiese an der Ferse geschnitten, weil ich in ein verlorenes Piercingteil getreten war.
    Für die größte Unruhe im Dorf sorgte aber das Projekt der Verschönerung der sogenannten Glücklitzer Allee, der einzigen Straße, die nach Glücklitz führt. Diese Allee war sehr eng, kurvig und voller Löcher. Autos konnten hier nicht einfach aneinander vorbeifahren, eines musste immer ausweichen. Ich bin stets davon ausgegangen, dass diese Straße extra nicht repariert und in möglichst schlechtem Zustand gehalten wurde, damit keine Raser durchs Dorf fuhren. Viele Autofahrer, die nach Brandenburg kommen, denken, dies sei nun die Prärie, und fahren wie die Verrückten. Die Dorfbewohner haben sogar selbst in Handarbeit eine Art Verkehrsschild angefertigt, ein rundes, grün bemaltes, mit Blümchen und Kindern dekoriertes Zeichen, auf dem klar und deutlich steht »Glücklitz wählt 30!«. Doch viele Raser und Motorradfahrer pfeifen darauf, was Glücklitz wählt. Trotz ihrer Fahrweise sind die Raser nämlich leider intelligent genug, um handgemachte Verkehrsschilder von amtlichen zu unterscheiden.
    Offiziell gilt die Glücklitzer Durchfahrtsstraße als »Allee«, man darf sie mit 80 km/h passieren, und wenn man am ersten Haus vorbeifährt, ist der Bremsweg länger als das ganze Dorf. An manchem sonnigem Wochenende kommen ganze Kolonnen von Motorradfahrern vorbei, und mit den Jahren werden es immer mehr. Auf ihren fetten lauten Fahrzeugen summen sie wie hungrige Bienen durch die Gegend, bis die Hunde heiß werden und die Hühner am Eierlegen verzweifeln. Und jetzt sollte zu allem Unglück auch noch die Glücklitzer Allee breiter und platter gemacht werden.
    Wie weit kann ein kleines Dorf gehen, um sich gegen die laute, stinkende Außenwelt zu wehren? Die Unabhängigkeit der kleinen Kommunen hängt in Deutschland immer an einem seidenen Faden. Wird eine kleiner, als die Polizei erlaubt, wird sie quasi automatisch in eine größere eingemeindet. Die Gefahr der Eingemeindung hängt schon lange über den Glücklitzer Gärten. Die größeren Kommunen mit den slawisch klingenden Namen im Umkreis des Dorfes würden Glücklitz gerne schlucken, zumal sie alle aus Tradition verschuldet sind und Glücklitz nicht, weil die Glücklitzer sehr sparsame Menschen sind, schon weil sie sich nicht entscheiden können, was sie wollen. Das Dorf ist in den letzten Jahren kleiner und der Friedhof etwas größer geworden. Es ist also nur eine Frage der Zeit – früher oder später wird Glücklitz eingemeindet werden. Dann ist das Geld, das Glücklitz über Jahre hin sparte, für immer futsch. Das Bezirksamt machte den Glücklitzern daher bereits klar, dass es genau jetzt höchste Zeit wäre, das Geld auszugeben, es für etwas Sinnvolles zu verbrauchen, zum Beispiel für die Verbesserung der Straße, also der Glücklitzer Allee, die über fünf Kilometer bis zum nächsten Dorf führte.
    Die Glücklitzer waren bei dieser Entscheidung zutiefst gespalten. Zum einen wäre es gar nicht schlecht, eine bessere Straße zu haben, denn jeder Dorfbewohner nutzte sie beinahe täglich, um einzukaufen oder zur Arbeit zu fahren. In ihrem bisherigen Zustand macht die Allee aus jedem Auto Schrott. Andererseits hatten die Glücklitzer Angst, die Verbesserung und Verbreiterung der Straße würde noch mehr Raser und Motorradfahrer ins Dorf locken. Bis zuletzt zeigten sich die Glücklitzer unentschlossen. Die Einwohner, deren Fenster direkt auf die Glücklitzer Allee gingen, fingen an, Unterschriften gegen den Ausbau zu sammeln. Die Einwohner, deren Fenster zum See oder zum Wald gingen, unterschrieben dagegen nicht. Am Ende setzten sich alle Parteien an
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