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Felidae 06 - Schandtat-neu-ok-22.02.12

Felidae 06 - Schandtat-neu-ok-22.02.12

Titel: Felidae 06 - Schandtat-neu-ok-22.02.12
Autoren: Akif Pirinçci
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    Die Geschichten, die guten Geschichten, die aufregenden und
die, die das Herz berühren, jene, die es wirklich lohnt anzuhören – wo kommen
sie her? Wie könnte es anders sein: natürlich aus der Vergangenheit! Es sind
die alten Geschichten, aus einer Zeit, als alles neu war und man selbst noch
jung. Denn die Jugend ist ein ambivalentes Geschenk, von dem der Beschenkte
nicht weiß, daß es ihm überhaupt zuteil wurde, geschweige denn daß es zu guten
Geschichten taugt. Die Jugend – man weiß sie erst viel, viel später zu
schätzen. Doch dann ist es zu spät. Und zurück bleiben nur die alten
Geschichten.
    »Wie wurdest du so, wie du jetzt bist, Paps?« wollte
Junior wissen.
    »Du meinst, uralt?«
    Ich befühlte mit der Zunge den fabrikneuen, linken
Reißzahn aus Kunststoff, den mir der Zahnarzt erst am vorigen Tage unter
Vollnarkose eingesetzt hatte. Der echte war mir während eines Kampfes mit einer
fetten Ratte im Garten einfach so abgefallen. Ich hatte gestutzt, das Hauen und
Stechen kurz unterbrochen und blöd auf das gute Stück geglotzt, das nun
blutbefleckt im Nacken des Widersachers wie eine Nadel im Kissen steckte. Die
Ratte hatte ebenfalls blöd geglotzt, konnte es sich jedoch in ihrer
Ratteneinfalt nicht verkneifen, ein Hohnlachen auf ihr spitznasiges
Rattengesicht zu zaubern. Mir war nichts anderes übriggeblieben, als in meiner
Trauer über das verlustiggegangene Teil ihre Gurgel einfach mit einer Kralle
aufzuschlitzen. Danach lachte sie nicht mehr. Vielleicht war ich also doch
nicht so alt, wie ich glaubte.
    Es war der dritte Advent, und draußen ums Haus blies ein
eisiger Wind, in den sich allmählich die ersten Schneeflocken mischten. Doch
wir hier drinnen hatten es nicht nur warm und behaglich, sondern wir hatten
viel mehr als das, nämlich uns! »Wir hier drinnen«, das waren mein
neunmalschlauer Sohn Junior, der die anstrengende Angewohnheit besaß, alles
genau wissen zu wollen, meine geliebte Sancta, ein Mitbringsel aus Rom, die
mich auf meine alten Tage auf den rechten Pfad der Monogamie zurückgebracht
hatte, mein bester Freund Blaubart, dessen Alter wie bei dieser einen ägyptischen
Mumie wohl nur noch ein Computer-Kernspintomograph zu diagnostizieren vermag,
und meine Wenigkeit. Wir alle lagen zu später Stunde Flanke an Flanke auf dem
Schaffell vor dem Kamin. Der Flammenschein der brennenden Holzscheite, die
einzige Lichtquelle im Raum, tauchte unsere Samthaar-Gesichter in ein rötliches
Zwielicht.
    Nun ja, natürlich befand sich noch einer im Wohnzimmer,
oder besser gesagt, er nahm es ein. In einem von uns gelegentlich als Kratzbaum
benutzten, zerfurchten alten Ledersessel hinter unseren Rücken schnarchte
Gustav immerhin leise vor sich hin. Sein Elefantenschädel bedeckte fast die
gesamte Kopfstütze, seine hundertundfünfzig Kilo ließen die Konstruktion unter
ihnen ächzen, wenn er sich in seinem Dämmerzustand bewegte. Von was er wohl träumte?
Doch vermutlich träumte er gar nicht, sondern genoß es einfach, daß er es auf
seine alten Tage doch noch zu etwas gebracht hatte. Er war ein inzwischen
weltweit anerkannter Archäologe, dessen Schriften über versunkene Reiche ihm
von den angesehensten Institutionen förmlich aus den Händen gerissen wurden.
Und was hatten diese Hände all die Jahre nicht alles anstellen müssen, um uns
beide über die Runden zu bringen: »Kurzromane« für Frauen jenseits der
Menopause schreiben (»Gisela – geschändet und um die Rente betrogen!«),
Telefonate während einsamer Nachtwachen in Call-Centern entgegennehmen (»...
wenn Sie uns statt einem drei Särge der Güteklasse C abnehmen, bekommen Sie
einen vorgravierten Grabstein mit der Inschrift ›Hier liegen meine Gebeine/Ich wünschte,
es wären deine‹ gratis ...«), oder ganz emsig die Computertastatur bedienen und
gegen ein Entgelt von fünf Euro medizinische Ratschläge absondern (»... ich
verstehe, Sie haben also Diabetes, Bluthochdruck, Panikattacken und Fußpilz –
haben Sie es schon mit Aspirin versucht?«).
    Diese entbehrungsreichen Zeiten lagen aber schon weit
hinter uns, und Gustav und ich genossen das saturierte Dasein eines
Akademikerpaares mit den üblichen Wonnen. Renovierter Altbau mit honigfarbenen
Holzdielen, klassische Musik am Abend im Kerzenschein, wobei er sich geistlos
an seinem Mozart erfreute, wogegen ich mich mehr an Benjamin Britten
orientierte, er wie immer an seiner Flasche Chablis nuckelnd und ich mich wie
gewöhnlich an meinem Evian aus dem Wassernapf
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