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Dieser Sonntag hat's in sich

Dieser Sonntag hat's in sich

Titel: Dieser Sonntag hat's in sich
Autoren: Marcia Muller
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Das Obdachlosenproblem zerstöre unser aller
Lebensqualität; die Steuergelder, die für Obdachlosenunterstützung verwendet
würden, seien nur ein Tropfen auf dem heißen Stein; regionale Hilfszentren
müßten errichtet und weitere Untersuchungen finanziert werden.
    Untersuchungen, dachte ich ungläubig. Noch mehr
Geld, mit dem Menschen ernährt werden könnten, auf nutzlose Untersuchungen
verwenden?
    Ich dachte an meinen eigenen
Collegeabschluß in Soziologie und daß — wenn mehr daraus geworden wäre als ein
mit Vinyl überzogenes Diplom, von dem ich nicht wußte, wo ich es hingesteckt
hatte — ich es hätte sein können, die da im Radio Probleme analysierte und
zerpflückte. Dann dachte ich an Rudy Goldring und Bob, seinen obdachlosen
»Türwächter«, und an Goldrings naiven und gleichzeitig praktischen Kommentar,
daß die Dinge besser stünden, wenn sich jede Firma südlich von Market eines
Obdachlosen annähme. Unter diesem Aspekt begann mich das Soziologengeplapper zu
deprimieren. Ich schaltete um auf die KSUN-Sendung »Licht der Bucht«.
    Mein Exfreund, Diskjockey Don Del
Boccio, schwätzte über ein Rockkonzert, das KSUN in der nächsten Woche im
Oakland-Kolosseum veranstaltete. Er und der Wunderbus des Senders seien dabei,
zusammen mit Tina, der tollen Verkehrsreporterin. Die ersten einhundert Paare
würden kostenlos KSUN-T-Shirts und Poster bekommen. Jeder Zuschauer nehme auf
Grund seiner Eintrittskarte automatisch an einer Lotterie teil — der Hauptpreis
sei eine Verabredung mit dem beliebtesten Diskjockey. Dann wären da noch...
    Ich schaltete auf den Sender mit
klassischer Musik um. Don zuzuhören war fast so niederschmetternd wie die
unmenschliche Diskussion über die Armen und Mittellosen der Stadt. Nicht weil
wir im Bösen auseinandergegangen wären; unsere Beziehung war nicht mehr so eng
gewesen, daß die Trennung Erbitterung ausgelöst hätte. Auch nicht, weil er mir
fehlte; ich vermißte ihn nicht. Als er aus meinem Leben verschwand, war ich
eher erleichtert gewesen. Aber als ich seine übersprudelnde Stimme und sein
glattes Geschwätz hörte, erinnerte mich das an alles, was zwischen uns
schiefgelaufen war — daran wie leicht Menschen körperliche Anziehung und die
Bewunderung von Eigenschaften, die sie selbst nicht besitzen, für Liebe halten.
    Don ist ein fröhlicher, extrovertierter
Mann, der mehr das Gute als das Schlechte in der Welt sieht, eine kleine
Berühmtheit, der seinen Ruhm leicht tragen kann. Ich beneidete ihn um seine
sorglose Lebenseinstellung und dachte, daß er mir helfen könnte, die Dinge
etwas lockerer zu sehen; er beneidete mich um meine Zielstrebigkeit und dachte,
daß ich ihm helfen könnte, einen ernsthafteren Berufsweg einzuschlagen.
    Aber nach einigen Jahren zeigte sich,
daß Don und ich zu verschieden waren. Sein Optimismus erschien mir seicht; er
ging mir auf die Nerven; er ärgerte sich über meinen Zynismus und meine
eifersüchtig bewachte Privatsphäre. Er fand meine Fälle zu frustrierend und
wollte nicht darüber sprechen. Ich fand selbst die tiefgründige Talkshow, zu
der er den Sender überredet hatte, noch oberflächlich; ich begleitete ihn nur
ungern zu den Schickimicki-Werbeveranstaltungen von KSUN. Schließlich flüchteten
wir uns beide in unsere langen, unregelmäßigen Arbeitszeiten und ließen unsere
Beziehung im Sande verlaufen.
    Vor sechs Monaten hatten wir uns
getrennt. Ich hatte noch keinen Ersatz gefunden, suchte auch nicht richtig. Nun
fragte ich mich, was mit Don war. Wer war denn Tina, die tolle
Verkehrsreporterin? Hatte er von ihr nicht mit mehr als seiner üblichen
Begeisterung gesprochen?
    Einen Augenblick lang erwog ich,
nochmals KSUN einzuschalten und Don zuzuhören. Vielleicht gelänge es mir, seine
Gefühle und Lebensumstände über den Äther zu ergründen. Dann lachte ich laut.
War ich etwa ein bißchen eifersüchtig? Nein, beschloß ich, eigentlich nicht.
Don war für immer aus meinem Leben verschwunden. Aber ich war neugierig, wie
ich es bei jedem Exlover gewesen wäre.
    Trotzdem drehte ich nicht an den
Radioknöpfen. Der Sender, den ich gerade hörte, spielte Brahms, einen meiner
Lieblingskomponisten, seit Don, der in der Eastman School of Music zum Konzertpianisten
ausgebildet worden war, meine Begeisterung für Klassik geweckt hatte. Die
Stunden vergingen, während Brahms von Mendelssohn und dann von Tschaikowski
abgelöst wurde. Der Nebel blies mittlerweile so dicht wie Schnee. Gegen
Mitternacht döste ich fast ein, und so
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