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Dieser Sonntag hat's in sich

Dieser Sonntag hat's in sich

Titel: Dieser Sonntag hat's in sich
Autoren: Marcia Muller
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einmal
gesessen hatte. Ich hatte Wilkonson im Wharf-Viertel verloren, aber als ich in
die Lombard Street zurückkehrte, stand sein Ranchero auf dem Stellplatz unter
dem Motel. Etwa eine Stunde später tauchte Wilkonson zu Fuß auf — wahrscheinlich
kam er vom Abendessen in einem der nahe gelegenen Cafés oder kleinen
Restaurants. Er ging auf sein Zimmer, und kurz darauf erlosch das Licht hinter
seinem Fenster.
    Als ich sicher war, daß er eine Weile
in seinem Zimmer bleiben würde, stieg ich aus und ging in das Café. Außer den
belegten Broten und dem Obst, das ich hinuntergeschlungen hatte, während ich
Wilkonson von Gartencenter zu Gartencenter folgte, hatte ich nichts gegessen,
und die Schokoriegel, die ich für Notfälle immer in der Tasche habe, lockten
mich nicht. Ich setzte mich an denselben Platz am Fenster, an dem ich morgens
gesessen hatte, und aß einen Hamburger und Pommes frites, während ich
Wilkonsons dunkles Motelzimmer nicht aus den Augen ließ. Dann kaufte ich mir
noch einen großen Kaffee. Im Auto schlug ich die Zeit tot, indem ich Radio
hörte und meine schwindenden Energien mit Schokolade und Kaffee aufmöbelte.
    Nebel war wieder aufgezogen, in
dichten, stürmischen Fetzen. Er hüllte die Lombard Street ein wie
windgepeitschter Schnee. Ich verkroch mich in meiner Jacke — die Heizung konnte
ich nicht anstellen, sie war kaputt — und dachte über den Mann nach, den ich
verfolgte: über seine Besuche von Orten, die mit Pflanzen zu tun hatten, seine
Fragen, die ich nicht hören konnte, seinen offensichtlichen Zorn.
    Er mußte jemanden suchen. Eine Person,
deren Beruf oder Liebhaberei mit Gartenbau zu tun hatte. Das konnte vom
Angestellten eines Blumenladens über den Präsidenten eines Gärtnervereins bis
zum Landschaftsarchitekten jeder sein. Immer wenn er jemanden angesprochen
hatte, hatte er wahrscheinlich eine Person beschrieben; die Handbewegungen, mit
denen er seine Worte untermalte, ließen das vermuten. Da er so große Mühe bei
seiner Suche hatte, wußte er entweder den Namen der Person nicht, oder er hatte
Grund zur Vermutung, daß sie einen falschen Namen angenommen hatte. Warum? Weil
die Person mit dem Gesetz in Konflikt geraten war? Weil sie sich vor Wilkonson
verstecken wollte? Und wenn letzteres der Fall war — warum?
    Wilkonson neigte zum Jähzorn. Er
bändigte seinen Zorn, aber das hieß nicht, daß er nicht zum Ausbruch kommen
konnte, wie der Vorfall im Wharf gezeigt hatte. Ein potentiell gewalttätiger
Mann. Jemand, vor dem man sich unter Umständen verstecken möchte.
    Gewalttätiges Verhalten gehörte nicht
zu dem Bild von Wilkonson, das Rudy Goldring beschrieben hatte. Er hatte ihn
»komisch« genannt, hatte gesagt, daß »er möglicherweise in Schwierigkeiten
geraten könne, wenn er allein durch die Stadt zog«. Ich hatte angenommen, daß
»komisch« verhaltensgestört oder vielleicht zurückgeblieben hieß. Aber auf
Wilkonson traf weder das eine noch das andere zu.
    Wußte Rudy Goldring von Wilkonsons
potentieller Gewalttätigkeit? Wenn ja, dann hatte er in seiner Beschreibung
einen Schlüsselfaktor unterschlagen — einen Aspekt, von dem ich hätte wissen
müssen, bevor ich seine Beschattung übernahm. Diese Unterlassung — oder
vielleicht bewußte Täuschung — machte mich zornig. Ich bin schon von
anderen Klienten hinters Licht geführt worden und habe in einigen Fällen die
Wahrheit erst herausgefunden, nachdem nicht wiedergutzumachender Schaden
angerichtet worden war. In einem Fall waren zwei Menschen unnötigerweise
gestorben — und ich wäre fast ums Leben gekommen.
    Es hatte jedoch keinen Sinn, mich jetzt
darüber zu ärgern. Ich plante, Goldring darauf anzusprechen, wenn ich ihm am
Nachmittag meinen Bericht überbrächte. Um mich zu beruhigen, stellte ich das
Radio auf einen Sender ein, der Oldies spielte, aber nach kurzer Zeit wurde das
Programm wegen einer Sonntagabend-Talkshow über das Problem der Obdachlosen in
San Francisco unterbrochen. Die Teilnehmer waren ein Sozialarbeiter, ein
Priester und ein Soziologe; ihre leidenschaftslose Diskussion reduzierte jene
Menschen, die in Einfahrten oder auf Parkbänken schliefen, auf die nackte
Statistik. Sie sprachen von mehr als siebentausend Obdachlosen allein in der
Stadt und in der Greater Bay Area von mehr als fünfundvierzigtausend. Sie
sagten, daß für die Obdachlosen in der Stadt nur gut eintausend Betten in
Wohnheimen zur Verfügung stünden; im Gesamtgebiet gebe es für je fünfzehn
Obdachlose ein Bett.
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