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Diese Dinge geschehen nicht einfach so

Diese Dinge geschehen nicht einfach so

Titel: Diese Dinge geschehen nicht einfach so
Autoren: Taiye Selasi
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Tatsachenfeststellung, und das Gesicht seines Vaters an dem Abend im Volvo, »ein Künstler wie er«, überhaupt kein Fremder. Der Anfall ist nach drei oder vier Minuten vorbei – das Herz, das nach innen aufplatzt, zerbricht, in Splitter zerfällt –, aber es fühlt sich an, als wäre mindestens eine Stunde vergangen, als der letzte Schluchzer verebbt und Kehinde aufblickt. Der Mann ist weg.
    9
    Benson ruft seinen Fahrer an und fragt ihn, wo er steckt. Der Fahrer erklärt aufgeregt, dass er hier am Strand ist, bei dem Pfad der Fischer, wohin er die hübsche Frau geführt hat, die das Mädchen suchte. Dadurch löst sich das Rätsel um Fola und Taiwo. Benson bittet den Fahrer, zum Wagen zurückzukommen. Sadie, Ling, Olu stehen da und warten verwirrt. Kehinde erscheint, geht mitten auf der Straße. Der Fahrer kommt aus der anderen Richtung angelaufen. Das
Piep-piep,
als die Türen geöffnet werden, blinkende Lichter. Benson, Kehinde, Sadie, Ling und Olu steigen ein, die letzten drei setzen sich diesmal in die dritte Reihe, als spürten sie, dass Kehinde noch eine Weile für sich bleiben muss; der Fahrer beginnt wieder zu summen. Sie fahren die kurze Strecke zum Ozean, wo Fola und Taiwo am Straßenrand warten. Fola hat den Arm um Taiwos nackte Schulter gelegt. Olu und Sadie geben beide überraschte Laute von sich. Fola setzt sich zwischen Taiwo und Kehinde und hält beide an der Hand, mit letzter Kraft.
    »Sollen wir jetzt den Sarg auswählen?«, fragt Benson.
    »Können wir uns für eine Feuerbestattung entscheiden? Geht das in Ghana?«, erkundigt sich Fola.
    »Ja, natürlich geht das.« Benson scheint verdutzt. »Zum Beispiel gleich neben meiner Klinik.«
    »Heute noch?«
    »Ich rufe gleich an.« Er greift zu seinem Handy.
    Der Fahrer schaut in den Rückspiegel, um von Fola Anweisungen zu bekommen. »Madame?«
    Fola nickt. »Wir fahren nach Hause.«

Sechs
    Später, viel später, als der Mond schon aufgegangen ist und der Tag sich spektakulär in Blutrot und Blutorange, Blau und Magenta verabschiedet hat – ein überwältigender Sonnenuntergang, den keiner von ihnen sieht –, da treffen sie sich wieder am Tisch, um zu Abend zu essen (Reis, Garden-Egg-Suppe), ohne Taiwo, die sich ausruht. Danach wandern alle in ihre Zimmer, gefolgt von Schmerzen und leisen Hoffnungen, und die Türen schließen sich.
    2
    Ling liegt auf der Seite, als er aus dem Bad kommt. Er bleibt in der Tür stehen und betrachtet ihre Haare. Normalerweise tröstet es ihn, Ling beim Schlafen zuzusehen, er spürt dann, dass es auf dieser Welt wenigstens eine Spur von Hoffnung gibt, sich irgendwo auszuruhen, und er merkt gleichzeitig, wie sein Herzschlag sich verlangsamt und vom Tempo seiner Ängste in den Rhythmus ihrer Atemzüge übergeht –, aber jetzt quält es ihn nur. Die schwarzen Haare auf dem weißen Kissen erinnern ihn an den Sonntag in Boston: der Schnee, die Nacht und der Trommelschlag, das glatte Schwarz ihrer Haare das einzig Vertraute zwischen so viel Fremdem. Drei Tage sind vergangen, seit er auf dem Eames-Stuhl saß und stumm seine schlafende Frau anschaute, aber wenn er jetzt zurückdenkt, scheint es weiter weg, viel weiter weg, sowohl zeitlich als auch geographisch. Oder
sie
scheint viel weiter weg, Hüfte, Taille, Schulter, die vertrauten Rundungen sind zu weit weg, um sie zu berühren. Oder
er
. Er fühlt sich weit weg von dieser Figur, die keine drei Meter von ihm entfernt ist, weit weg von sich selbst.
    Er will zurück, denkt er, zurück nach Hause, in das Schlafzimmer, in die Wohnung, die er gefunden hat, als sie das erste Mal wegen der Uni umgezogen sind, keine zehn Minuten zu Fuß von dem Haus, in dem er früher gewohnt hat (in die andere Richtung, gegenüber vom Massachusetts College of Art). Er hat diese Wohnung geliebt, von dem Moment an, als die Maklerin die Tür aufschloss: die Edelstahlküche und die leuchtend weißen Wände, der helle Parkettfußboden und die riesigen Fenster, und die Sonne spielte Narziss, blendend helles Licht. Aber er konnte sie sich nicht leisten, er hatte gerade erst nach dem College das Medizinstudium angefangen (zurück aus Accra, immer noch den Geruch dieser Frau in der Nase, den Geschmack des unausgesprochenen Verrats noch auf der Zunge). Ein Wunder, wirklich, wie es sich dann Jahre später ergab: Er kam aus der Bibliothek der
School of Public Health
, als ihm eine Anzeige am Anschlagbrett auffiel. Es war die Anzeige für eben diese Wohnung. Lings Mutter war gestorben und hatte eine
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