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Diese Dinge geschehen nicht einfach so

Diese Dinge geschehen nicht einfach so

Titel: Diese Dinge geschehen nicht einfach so
Autoren: Taiye Selasi
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Weihnachtslichterkette. Das Fenster ist geschlossen, ebenso die drei massiven Fensterläden, die den oberen Teil der hinteren Wand bilden. Die einzige Helligkeit kommt vom weißen Sonnenlicht, das durch die Tür auf den groben Lattenfußboden fällt. Aber als sich seine Augen an die matte Beleuchtung gewöhnt haben, kann Kehinde die Särge erkennen, die wie Boote an den Balken hängen: einer ein Auto, der andere ein Fisch, der dritte sieht aus wie eine Rose, einerseits absurd, andererseits wild und fantasievoll. Was für eine Idee! Särge in verschiedenen Formen, wie Kuchen für einen Kindergeburtstag, festlich, bunt, über den Tod lachend.
Sangna wäre begeistert
, denkt er – und erschrickt. Der Gedanke trifft ihn unvorbereitet, genau wie das Bild ihres Gesichts:
    Sangnas schmales braunes Gesicht mit den schlecht zusammenpassenden Zügen, die von ihrer Besitzerin immer als »zu groß« beschimpft werden. Ein Bild, das aus dem Kontext fällt. Auf der Rückseite seiner Augenlider. Ihr Gesicht auf dieser Leinwand, diesem Ort in seinem Kopf, wo sich die Bilder bemerkbar machen, wenn seine Gedanken zu wandern beginnen und Formen an die Stelle von Wörtern treten, wie bei einem belichteten Foto. (So beginnen Gemälde und Offenbarungen, eine Form kommt aus dem Dunkeln auf diese Leinwand geschwebt, zuerst verschwommen, dann detailliert, dann klar und deutlich wie eine Erinnerung, als wäre der schöpferische Prozess ein Akt des Sich-Erinnerns.) Und auf dieser Leinwand erscheint nun Sangna, die wunderbare Sangna, deren schmales braunes Gesicht immer wieder vorbeischwebt, es blitzt hier auf und da, wenn er in Brooklyn arbeitet oder ihre Texte liest und während sie miteinander telefonieren –, aber er hat noch nie über dieses Gesicht nachgedacht, nie richtig, so wie jetzt, ohne Kontext, einfach so für sich. In einem anderen Licht. Als er jetzt daran denkt, merkt er, dass sie recht hat, ihre Gesichtszüge passen nicht in den Rahmen mit den schmalen Wangen, Zähne und Augenbrauen sind irgendwie zu groß, die Augen eines Mannes, die Nase eines Mannes, der Mund eines Mannes, das Kinn eines Kindes.
Ein erlesenes Ungleichgewicht
, denkt er – aufregend, weil dadurch immer eine Spannung entsteht, wenn er sie nach Monaten wiedersieht und die ersten dreißig Sekunden ganz nervös ist, als würde er einem Jongleur zusehen, ängstlich und erstaunt, s
ie sind noch da
, alles hat seine Ordnung, diese riesigen, herrlichen Gesichtszüge, die mit ihren Grenzen kämpfen, aber trotzdem nicht abtrünnig werden.
    Dieses Gesicht.
    Und ihr Lachen.
    »Jetzt willst du also Särge machen«, hört er Sangna lachend sagen. »Du hast doch gerade erst mit den Musen angefangen. Du bist wahnsinnig. Aber mir gefällt die Idee. ›Kehinde Sai,
Särge
‹. Liste für die Materialien am Montag. Und bitte – keinen Dreck mehr.«
Eine Heimat
, würde er ihr sagen (denkt er),
für die Heimatlosen
, eine Heimat in dem Raum nach dem Ende der Körperlichkeit. Dieses Ding, das er vielleicht verfrüht angestrebt hat, eine Heimat, kein Sarg. Seine nächste große Show. Phantasiesärge. Seine nächste Installation. Sobald er die Gemälde in Brooklyn fertig hat, die Gemälde von ihr, seiner Schwester, als jede einzelne der Musen, riesengroße Porträts.
    Mit dem Gedanken daran überschwemmt ihn eine warme Welle der Trauer. Das Bild geht abrupt von Sangna auf Taiwo über: ein Mädchen, auf dem Rücken liegend, in ihrem Minni-Mouse-Nachthemd, auf dem Rokoko-Sofa, ihre Stimme in seinem Kopf ein kaum hörbares Flehen:
Bitte, hilf mir
. Und danach, ihr Gesicht. Danach, nachdem er getan hat, was der Onkel befohlen hat, damit der Wächter mit den gelbsüchtigen Augen sie nicht anfasst – danach, als er auf seine Shorts blickte, genau wie Taiwo auch, und den nassen Fleck sah – der Ausdruck auf ihrem Gesicht. Er konnte diesen Ausdruck nicht ertragen, er war aus dem Raum gerannt, ein Feigling, ein Idiot, aber jetzt sieht er das Gesicht, auf das er nur diesen kurzen Blick geworfen hat, er sieht es vor sich, eingefroren, ganz ruhig steht es vor ihm, als wäre er wieder dort. Der pure Horror in ihren Augen, als sie den Beweis seiner Lust sieht, den Fleck, diese seltsame Flüssigkeit der Schande.
    Da hat er das erste Mal begriffen, dass er einen Körper hat und dass er in diesen Körper eingesperrt ist, gefesselt, ein Luftwesen in einem Käfig. In seinem Denken war er woanders gewesen, weit weg, weiter weg als der Schnee, war mit Taiwo durch den Raum jenseits des Raums
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