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Die zerbrochene Uhr

Titel: Die zerbrochene Uhr
Autoren: Petra Oelker
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hatte Bucher da plötzlich gesagt, »es ist gut. Setzen. Sehr gut.«
    Nun war Finkmeester dran, und alle, außer Lehrer Bucher natürlich, aber ganz gewiß war das nicht, warteten begierig auf einen Fehler. Finkmeester machte keinen, er erinnerte sich auch heute wie immer an alles, was sehr langweilig war. Nicht einmal die getrocknete Vogelbeere, die aus einer der hinteren Bänke angeflitzt kam, brachte ihn ins Stolpern, obwohl sie sein linkes Ohr streifte. Finkmeester war ein echtes Kreuz. In all den Jahren, die er nun schon die Hamburger Gelehrtenschule im ehemaligen St.-Johannis-Kloster, das Johanneum, besuchte, hatte er es nicht zu einer einzigen Strafarbeit gebracht, war er nicht ein einziges Mal zu spät gekommen. Jedenfalls wurde das von seinen Mitschülern behauptet, und Niklas Herrmanns, der viele Jahre von Privatlehrern unterrichtet worden war und die ehrwürdige Schule erst seit einem halben Jahr besuchte, zweifelte keine Sekunde daran.
    Er selbst gehörte auch nicht zu denen, die Tadel und Strafarbeiten sammelten wie Orden, aber er war ein großer Zuspätkommer. Natürlich scheuchte Elsbeth ihn allmorgendlich zur rechten Zeit vom Frühstückstisch im elterlichen Haus am Neuen Wandrahm zur Schule, aber der Weg von der Wandrahminsel im Süden der Stadt bis zum Johanneum in ihrer Mitte bot auch schon morgens um halb sieben genug Gelegenheiten, die Schule und den nahen Beginn des Unterrichts für einige Minuten zu vergessen.
    Ganz besonders an diesem Morgen. Zuerst hatte ihn ein Streit zwischen dem blinden Leierspieler und einer Harfenistin um den äußerst lukrativen Platz an der Trostbrücke aufgehalten. Beide hatten ihre Anhänger, und auch als sich der Mann mit der Leier schon knurrend zum Alten Kran bei der Zollenbrücke verzogen hatte, wurde noch heftig darum gestritten, wer von den beiden die älteren Rechte auf diesen Platz hatte. Gerade als der Löffelverkäufer seinen Korb mit der Ware aus Holz und Horn in den Staub stellte, die Fäuste ballte und auf den Buckligen losgehen wollte, der sich für die Harfenistin stark machte, kam dummerweise einer von der Stadtwache und scheuchte die aufgeregt zeternde Versammlung auseinander. Da war immer noch genug Zeit gewesen, aber Niklas kam auf die fabelhafte Idee, einen kleinen Umweg über den Berg zu machen, um beim Bäcker neben der Fronerei einen Zimtkringel zu kaufen. Auf dem großen Platz nahe St. Petri herrschte bereits zu dieser frühen Stunde großer Trubel. Ein kleiner dicker Mann im quittengelben Rock hielt im Schatten eines schon ziemlich zerfetzten roten Seidenschirmes nahe dem Pranger eine drohende Rede gegen das Branntweintrinken, was aber außer einem Holzschuhverkäufer, einigen struppigen Sperlingen und einer kleinen Lerche niemand hören wollte. Straßenhändler riefen ihre Ware aus, Kontorboten drängten sich zwischen Köchinnen mit Marktkörben, unter ihrer Last schwankenden Karren, Sänften und Kutschen, Handwerker waren unterwegs zu ihrer Kundschaft, Bauern aus den Vier- und Marschlanden trieben ihr Vieh zum Küterhaus bei der Kleinen Alster, vornehm gekleidete Reiter lenkten ihre nervösen Pferde zum Rathaus oder zu den Gesandtschaften in den großen Häusern in der Gröninger- oder in der Reichenstraße. Und mittendrin der Strom der hochbepackten, vier- oder gar sechsspännigen Wagen, die das Steintor passiert hatten und nun durch die ganze Stadt und zum Millerntor wieder hinausrollen mußten, wenn sie ins dänische Altona oder noch weiter die Elbe hinab wollten.
    »Niklas«, klang es plötzlich durch den Lärm. »Niklas, hier sind wir!«
    Er entdeckte sie gleich. Die junge Frau, zu der die helle Stimme gehörte, saß auf dem Kutschbock eines schwerbeladenen Wagens, im dunkelblauen Kattunrock und, wie das Mädchen neben ihr, in ein graues Schultertuch gewickelt, in dem zu einem dicken Zopf geflochtenen blonden Haar eine Auerhahnfeder. Sie nahm die Zügel mit einer Hand und winkte ihm freudig.
    »Rosina!« Niklas rannte auf den Wagen zu und begann neben ihm her zu laufen. »Seid ihr gerade angekommen? Fahrt ihr wieder zur Krögerin? Und wo werdet ihr spielen, wo doch die Theaterbude in ihrem Hof nicht mehr da ist? Und wo ist Muto? Ist Muto nicht da?«
    Rosina lachte. »Erstens ja«, rief sie, »zweitens auch ja. Und zu deiner dritten Frage: Jean hat das kleine Komödienhaus am Dragonerstall für uns gemietet. Und Muto ist irgendwo. Wie geht es Anne? Und Monsieur Claes und den anderen?«
    Die Glocke von St. Petri schlug mahnend, Niklas
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