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Die zerbrochene Uhr

Titel: Die zerbrochene Uhr
Autoren: Petra Oelker
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erschreckt hatte wie schon lange nichts mehr. Nicht nur, weil sie feuerrot waren und dick anzuschwellen begannen, sondern weil sie der Beweis einer tiefen Demütigung waren.
    Benni, der Pferdejunge in den Herrmannsschen Ställen, hatte ihm erzählt, daß in den Armenschulen in der Neustadt an fast jedem Tag irgendeinem der Jungen die Gottesfurcht mit dem Rohrstock eingebleut wurde, womit allerdings meistens die Furcht vor den Lehrern gemeint war. Im Johanneum kam das nur selten vor und war – vom Einschluß in den Karzer, einer düsteren Zelle im Keller unter der Prima, bei Wasser und Brot einmal abgesehen – die größte Schande, die ein Johanneumschüler auf sich laden konnte. Deshalb waren die Lehrer gehalten, die Züchtigung nicht vor der Klasse, sondern nach dem Unterricht vorzunehmen. Daß einer aus den oberen Klassen, der Sekunda oder Prima, überhaupt noch auf diese Weise bestraft wurde, war unerhört.
    Zwei Männer stakten eine kleine, mit Fässern, prallen Säcken und zwei fetten Schafen beladene Schute vorbei. Als einer neugierig herübersah, ließ sich Simon ins Gras fallen und verbarg seine Hände in seinem Schoß hinter den angezogenen Knien.
    »Danke«, murmelte er und zeigte mit dem Kinn auf das kühlende Tuch. Niklas setzte sich neben ihn in den Schatten einer Erle. Er hätte gern gefragt, warum Simon in der letzten Vormittagsstunde seine Stimme so hart gegen den Lehrer erhoben hatte, ganz gewiß war das die Ursache für die Bestrafung. Aber er spürte, daß nun noch nicht die Zeit für Fragen war. So nahm er behutsam das Tuch, tauchte es noch einmal in das träge fließende Wasser und wickelte es wieder um die glühenden Hände.
    »Das wird er nie wieder tun«, sagte Simon plötzlich. »Ich weiß noch nicht wie, aber er wird es mir nun endlich büßen.«
    Seine Stimme klang kühl und entschlossen, er starrte auf das Tuch und bewegte darunter vorsichtig die Finger. »Zehnmal hat er zugeschlagen, zehnmal auf jede Hand. Genug? hat er nach jedem Schlag gefragt. Genug? Aber ich habe nicht ja gesagt, ich habe ihn nicht gebeten, aufzuhören. Ich habe mitgezählt, laut, damit er es hören kann. Zweimal bis zehn.«
    »Warum macht er das?« Niklas schien, als würden die Hände unter dem Tuch immer größer. »Weißt du, warum er das macht?«
    Simon antwortete nicht. Er blickte über das Wasser, über die breite grüne Nase, als die sich der Garten der Domina des Klosterstifts und die Klosterbleiche zwischen Fleet und Kleine Alster schoben, sah die schief aneinander gelehnten Fachwerkhäuser am jenseitigen Ufer, davor die Wäscherinnen auf einer im Fluß befestigten Holzbrücke – aber tatsächlich sah er das alles nicht. Sein Gesicht war nicht mehr ganz so bleich, aber seine Augen immer noch hart und dunkel. Es wäre Niklas lieber gewesen, wenn er geweint hätte, so wie er selbst es ohne Zweifel bei einem solchen Schmerz, einer solchen Demütigung getan hätte. Simon war fast drei Jahre älter als er, nicht der beste, aber doch ein guter Schüler, stets ruhig und freundlich, immer bereit, dem Jüngeren zu helfen, wenn er wieder einmal Probleme mit den Mysterien einer Landkarte, der Reihe der römischen Herrscher oder lateinischen Konjunktionen hatte. Langweilig nannten manche ihn, aber die kannten ihn nicht so gut, wie er, Niklas, Simon kannte.
    »Was willst du tun?« fragte Niklas.
    Simon zog die Schultern hoch, schloß die geröteten Augen und legte den Kopf in den Nacken. »Ich weiß es nicht«, sagte er. »Ich weiß aber, daß er im Unrecht ist, auch wenn mir das niemand im Scholarchat glauben würde.« Er stand auf, kniete sich an das Fleet und tauchte die Hände ins Wasser. »Eigentlich«, fuhr er dann fort, »hat er mich schon immer nicht gemocht.«
    Niklas nickte. Er wußte, daß Lehrer Donner kaum eine Gelegenheit ausließ, Simon zu schikanieren. Kein Schüler der Sekunda wurde so hart geprüft, keiner so spitz verspottet, so genau beobachtet wie Simon. Bei keinem anderen Jungen, verstand es der Lehrer so geschickt, kleine Schwächen bloßzustellen und verletzliche Stellen zu treffen. Monsieur Bucher, Niklas’ Lehrer in der Tertia, konnte auch mal gemein sein. Besonders in der Zeit vor Ostern, als alle gedacht hatten, er werde sich um die Beförderung zum Lehrer der Sekunda bewerben, und er es dann doch nicht getan hatte, war mit ihm wochenlang schlecht Kirschen essen gewesen. Aber er war doch gerecht – jedenfalls meistens und soweit ein Lehrer das überhaupt sein konnte er machte sich auch
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