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Die zerbrochene Uhr

Titel: Die zerbrochene Uhr
Autoren: Petra Oelker
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er wußte auch, wann ein Unterfangen zwecklos war. Alle, auch Lehrer Bucher, drängelten sich an den Fenstern, ausnahmsweise mucksmäuschenstill, damit das Spektakel nur nicht unterbrochen wurde, und versuchten, wenigstens genau zu hören, wenn es schon nicht möglich war, die Streithähne zu sehen.
    Nun schwieg die Stimme des Jungen, und eine andere sprach. Scharf wie ein Messer, aber leider viel zu leise, um sie in der Tertia zu verstehen. Dann blieb es still.
    Niklas beeilte sich, wie alle anderen zurück zu seinem Platz zu gehen. Lehrer Bucher stand schon vorne an der Tafel, klatschte in die Hände, klatschte noch einmal. Es würde einige Zeit dauern, bis die Schüler wieder die geforderte Aufmerksamkeit für ihn und den Katechismus aufbringen würden. Auch wenn er sich um schmale Lippen und strenge Stirnfalten bemühte, nahm er es ihnen nicht übel. Im Gegensatz zu seinem Kollegen Donner, aus dessen Klasse der Lärm herübergedrungen war, erinnerte er sich gut an seine eigene Schulzeit, und auch ihn interessierte nun viel mehr als Luthers Befehle für ein gottgefälliges Leben, was einen Sekundaner, doch schon ein junger Mann von vernünftigen fünfzehn oder sechzehn Jahren, zu solch kindlich-unbeherrschtem Aufruhr veranlaßt haben konnte. Bucher warf einen Blick auf die Sanduhr, die unablässig rieselnd auf seinem Pult stand und war erleichtert. Gleich würde einer der Jungen aus den unteren Klassen mit der großen Handglocke über den Hof laufen und das Ende des Vormittagsunterrichts anzeigen. Plötzlich fühlte er eine heitere Zufriedenheit. Wegen der nahen Pause, gewiß, vor allem aber, weil ein sonst so braver Schüler gegen Donner aufbegehrt und gar gedroht hatte, Meldung zu machen.
     
    Eine halbe Stunde später lag die Schule in der alten Klosteranlage verlassen und still. Mit dem Läuten der Handglocke und den gleich darauf folgenden zehn Glockenschlägen von St. Johannis hatte sie sich geleert wie ein umgekipptes Weinfaß. Flink und so lärmend, als sei ein Feuer ausgebrochen, waren die Schüler hinaus in die Sonne gerannt, gefolgt von den nur um weniges langsameren Lehrern. Wie alle Tage. Nur noch die melancholischen Töne eines alterszittrigen Cembalos klangen aus dem Musikzimmer. Kantor Bach erholte sich bei ein paar Takten der Aria seines seligen Vaters »Gib dich zufrieden und sei stille« von dem wahrhaft unbefriedigenden Gesangsunterricht in der Septima.
    Vor dem großen Portal saß nur noch Niklas Herrmanns. Er sah unruhig den Plan hinab, die Sackstraße, die vor der Schule breit wie ein Platz zur Großen Johannisstraße führte. Er zog seine Jacke aus und hoffte, daß ihn kein Lehrer erwischte. Der Aufgang zum Portal gehörte zum Bereich des Johanneums, ordentliche Kleidung – dunkler Rock, schwarze Kniehosen, weiße Wadenstrümpfe – galt auch hier als Pflicht, egal wie warm der Tag war. Lauer Wind wehte durch die Straßen vom Hafen herauf, strich durch die Kronen der alten Ulmen, brachte fernes Hundegebell und die Hammerschläge des Kupferschmieds am Mönkedamm mit und war schon wieder verschwunden. Die Zeit rann in zähen Tropfen. Irgendwann mußte Simon doch kommen. Wenn er noch lange hier herumsaß, würde statt dessen der Pedell erscheinen, ein stets grimmiger Mann, und ihn fortjagen. Niklas schob unruhig mit der Fußspitze ein paar Kiesel zu einem kleinen Haufen. Womöglich war Simon gleich in die Wohnung des Rektors gegangen, bei dem er zur Pension wohnte. Vielleicht war es ihm auch gar nicht recht, wenn er hier auf ihn wartete, gerade heute.
    Da hörte er ein Knarren, und Simon kam endlich heraus. Er schob das Portal mit der Schulter auf, seine Hände hingen schwer und steif an den Armen, als gehörten sie nicht zu ihm. Sein Gesicht war weiß und starr, nur die Augen unter der schweißfeuchten Stirn brannten dunkel. Er starrte Niklas an wie einen Fremden.
    »Niklas«, sagte er schließlich. Nur »Niklas«.
    Der wußte immer noch nicht, ob es richtig gewesen war, zu warten. Dann sah er auf Simons Hände. Sein Atem stockte, rasch stand er auf, nahm wortlos den Freund am Ärmel und zog ihn mit sich fort. Simon folgte ihm wie eine Gliederpuppe auf den schmalen Pfad an der Mauer des Gymnasiums und zwischen zwei Schuppen hindurch zum Klosterfleet, das einige Fuß weiter in die Kleine Alster mündete. Schnell beugte Niklas sich zum Wasser hinunter, tauchte sein großes, noch ganz weißes Taschentuch ein und legte es tropfnaß über Simons Hände. Über diese Hände, deren Anblick ihn
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