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Die zerbrochene Uhr

Titel: Die zerbrochene Uhr
Autoren: Petra Oelker
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vorgeschobenem Kinn geleierte Sätze – ›Arbeit‹ und ›verboten‹ betonte er dabei besonders – holten Niklas in das Klassenzimmer zurück. Lange konnte der Morgenunterricht nun nicht mehr dauern. Niklas seufzte. Schnell warf er einen Blick nach vorne zur Tafel. Sein Seufzer war leise genug gewesen, Bucher hatte ihn nicht gehört. Was ein Glück war, denn der Seufzer hätte verraten, daß er sich langweilte und nichts sehnlicher wünschte als Ferien. Alle redeten ständig von den Ferien, die für gewöhnlich im August zum Höhepunkt der Hundstage für eine Woche gewährt wurden. In diesem Jahr war es Ende Juni so heiß gewesen, daß Rektor Müller die Ferienwoche schon früher gewährt hatte. Nun hofften alle auf eine weitere Woche, doch die Chancen standen schlecht. Es war zwar warm, augustwarm eben, aber doch nicht so heiß oder gar drückend, daß das Lernen unmöglich gewesen wäre und das Sommerfieber die Klassen gelichtet hätte.
    Er seufzte noch einmal, diesmal warf der Lehrer ihm einen kurzen strengen Blick zu, und Niklas beeilte sich, ein aufmerksames Gesicht zu machen. Finkmeester hatte nun genug gepredigt, Monsieur Bucher hieß ihn sich setzen und wandte sich der Tafel zu, um die Hausaufgaben anzuschreiben. Stöpsel wurden aus Tintengläsern gezogen, und die ersten Federn begannen zu kratzen, aber Niklas sah wieder aus dem Fenster. Feine Kreidestäubchen schwebten in dem schmalen Sonnenstrahl, der nun vom Innenhof in den dämmerigen Raum fiel, und leiser Gesang schwebte in die Stille. Monsieur Bach, der neue Kantor aus Berlin, ließ in einer der unteren Klassen zum Abschluß der Stunde ein Lied singen. Ein Marienkäfer krabbelte über Niklas’ Pult, und als auch er sein Tintenfaß öffnete, erhob sich eine Stimme.
    Zuerst drang das Geräusch nur wie Murmeln durch die gerade einen Spaltbreit geöffneten Fenster zum Hof. Es konnte nur aus einer der anderen Klassen kommen. Im Obergeschoß wohnten zwar noch einige der Stiftsdamen aus dem anderen Teil des St.-Johannis-Klosters, aber diese Stimme klang weder fromm noch maßvoll, und sie gehörte eindeutig einem Jungen. Daß einer der Lehrer seine Stimme im Zorn erhob, war nicht ungewöhnlich. Die natürliche Autorität, mit der die Schüler nach der Meinung des Scholarchats zuvörderst zu wahrer Gottesfurcht und eifrigem Lernen angehalten werden sollten, war nun einmal nicht jedem gegeben. Diese Stimme, die nun immer lauter wurde, gehörte ohne jeden Zweifel einem Schüler, das war in der Tat außergewöhnlich.
    »Dazu habt Ihr kein Recht. Ich habe alle Aufgaben erfüllt, und es ist auch nicht wahr …«, die Stimme klirrte vor Zorn und war nun ganz deutlich zu verstehen, »… daß Körte mir den Beginn der zweiten Strophe zugeflüstert hat. Es ist nicht wahr. Ihr wißt, daß es nicht wahr ist. Und wenn«, die Stimme stolperte atemlos, als müsse der Sprecher Tränen hinunterschlucken, »und wenn Ihr mich wieder verleumdet, werde ich, dann werde ich, ja, dann werde ich es melden. Alles werde ich melden. Alles.«
    Alle dreiundzwanzig Schüler der Tertia drängten sich vor den beiden Fenstern zum Hof, reckten neugierig die Hälse und versuchten die Ursache dieser unerhörten Sätze zu entdecken. Aber leider war nichts zu entdecken, und tatsächlich kamen die Worte aus der Sekunda, die, nur durch einen Garderobenraum getrennt, im gleichen Flügel direkt neben der Tertia lag. Auch Niklas drängelte sich vor dem Fenster, allerdings weniger aus Neugier denn aus Sorge. Er hatte die Stimme gleich erkannt, obwohl er sie noch niemals zornig oder laut gehört hatte. In den vergangenen Monaten hatte Niklas zwei Schüler zu bewundern gelernt: Ludwig, genannt Böttcher IV, weil schon drei seiner Brüder vor ihm die Schulbänke des Johanneums gedrückt hatten: Niemand hatte eine so bunte Phantasie, wenn es darum ging, einen Streich auszuhecken. Der andere war Simon, ein Schüler der Sekunda und das ganze Gegenteil von Ludwig.
    Simon war es, der da gegen seinen Lehrer sprach, und zwar so laut, daß es nur so über den Hof hallte. Es kam einfach nicht vor, daß ein Schüler sich einen solchen Skandal leistete, schon gar nicht einer wie der stille Simon, von dem man niemals gehört hatte, daß er auch nur ein Tintenfaß umgeworfen hätte oder eine der verbotenen, gleichwohl allseitig beliebten kleinen Steinschleudern besaß, geschweige denn benutzte.
    Lehrer Bucher wußte natürlich, daß er seinen Schülern hätte befehlen müssen, auf ihren Plätzen zu bleiben, aber
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