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Die zerbrochene Uhr

Titel: Die zerbrochene Uhr
Autoren: Petra Oelker
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–, so wünschte er sich in diesem Moment doch nichts sehnlicher, als frei zu sein wie ein Vogel an einem Sommertag und in den warmen Morgen hinauszulaufen. Niklas Herrmanns an seinem Pult im Zimmer der Tertia lernte gern, aber die Schule liebte er nicht.
    »… nach dem hebräischen Wörtlein ›Sabbat‹. Dieses bedeutet eigentlich ›feiern«, das heißt Muße von der Arbeit haben, daher pflegen wir zu sagen ›Feierabend machen» oder ›heiligen Abend geben». Nun hat Gott im Alten Testament den siebten Tag …«
    Die Stimme des Jungen, der neben der ersten Bank stand und aus dem Katechismus deklamierte, klang fromm und bedeutungsvoll. Niklas glaubte sogar einen gewissen missionarischen Eifer herauszuhören, was ihn nicht wunderte. Luthers Erläuterungen zum dritten Gebot sagten, warum der Feiertag zu heiligen sei, vor allem aber, daß damit nicht Faulenzen oder gar im Wirtshaus liegen und toll und voll sein wie Säue, sondern Beten und auch Arbeiten gemeint sei. Zudem wurde darin mehrmals vor dem Teufel gewarnt, und Finkmeester, so hieß der Schüler von der ersten Bank, liebte es nun einmal, anderen einen Spaß zu verderben, notfalls auch mit dem drohenden Hinweis auf den allgegenwärtigen Antichrist.
    Er wäre ein hübscher Junge gewesen, wenn er sich nicht stets bemüht hätte, seinen wasserblauen Augen einen herablassenden strengen Blick aufzuzwingen, seine noch kindlich weichen Lippen wie in unablässiger Mißbilligung aufeinanderzupressen, kurz gesagt: auszusehen wie Lehrer Donner von der Sekunda. Der war ein äußerst strenger Mensch, den niemand je bei einer Geste der echten Herzlichkeit und des Frohsinns ertappt hatte. Gewiß hielt er solcherart menschliche Regungen für sündige Leichtfertigkeiten. Wohl verzog er seine Lippen hin und wieder zu einem Lächeln, aber das ließ an die Fröste im Februar denken, einige fanden sogar, an eine Natter. Finkmeester jedenfalls war der einzige Schüler der Tertia, der sich nicht auf seine Versetzung freute, weil er damit dem Abschluß der Schule und der Entlassung in die Freiheit ein Jahr näherrückte, sondern weil er dann endlich seinem Idol, Monsieur Donner, so nahe wie möglich war.
    Niklas Herrmanns gab sich keine große Mühe, Finkmeester zuzuhören. Er hatte seinen morgendlichen Vortrag schon absolviert und konnte sich erlauben, mit den Gedanken auszureißen. Lehrer Bucher hatte ihn heute gleich als zweiten aufgerufen, nach Böttcher IV, der nun auf der Eselsbank saß, mit Tinte herumkleckste, seine Feder ruinierte und vorgab, seine Strafaufgabe zu erfüllen, eine saubere Abschrift der Erläuterungen Martin Luthers zum vierten Gebot. Böttchers Vortrag der Worte des großen Reformators über das Gebot ›Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren‹ war nicht nur eine arge Stotterei gewesen. Auch hatte er die Worte des Katechismus immer wieder so verdreht, daß schon nach wenigen Minuten die ganze Klasse vor unterdrücktem Gelächter zu platzen drohte, und Niklas war sicher, daß es auch in Monsieur Buchers Gesicht verräterisch gezuckt hatte. Gewiß erfüllte Böttchers Vortrag nicht den in der Schulordnung vorgesehenen Zweck, nämlich das beständige Beschäftigen mit den Lebensregeln Luthers und die Übung des öffentlichen Vortrags, die sowohl für einen Gelehrten als auch für einen Kaufmann oder städtischen Deputierten von großem Nutzen waren. Aber es war allemal vergnüglich gewesen. Böttcher würde gewiß eines Tages bei den Komödianten landen, hatte Niklas neulich im Hof zwei Lehrer einander zuflüstern hören, die Komödie sei eindeutig sein wahres, leider auch sein einziges Talent.
    Niklas mußte das achte Gebot und die dazugehörigen Erläuterungen vortragen. Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten. Obwohl er sehr schön zu lesen und zu deklamieren verstand, hatte Lehrer Bucher ihn seltsamerweise nur den Anfang der Erläuterung vortragen lassen. »Außer unserem eigenen Leib, unserem Ehegemahl und unserem zeitlichen Gut haben wir noch einen Schatz, den wir auch nicht entbehren können, nämlich Ehre und guten Ruf. Denn es kommt darauf an, nicht unter den Leuten in öffentlicher Schande, von jedermann verachtet zu leben.«
    So weit war er schnell und ohne Fehler gekommen, obwohl ihm ein Rest des Lachens über Böttchers Eulenspiegelei immer noch in der Kehle steckte. »Darum«, so fuhr er fort, »will Gott des Nächsten Leumund, guten Ruf und Gerechtigkeit, so wenig wie Geld und Gut …«
    »Es ist genug, Herrmanns«,
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