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Die zerbrochene Uhr

Titel: Die zerbrochene Uhr
Autoren: Petra Oelker
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mühsam als Näherinnen. Sie waren im heiratsfähigen Alter, wenn er Glück hatte, beeilten sie sich mit der Ehe und dem Mutterwerden. Und waren hoffentlich so klug, Männer zu wählen, die über genug Verstand zur Verwaltung eines solch riesigen Erbes verfügten. Zumindest genug Verstand zur Wahl der richtigen Berater.
    Seinen Vorschlag, den Damen, so nannte er sie nun auch bei sich, schon jetzt eine Rente auszusetzen, damit sie ohne Not leben konnten, damit sie auch einen passenden Ehemann fanden, anstatt sich an irgendeinen Schuster oder Prediger zu vergeuden, hatte der Alte entschieden zurückgewiesen. Solcherart unverdiente Geschenke machten nur bequem, hatte er geknurrt, der Besitz müsse für den Sohn beisammengehalten werden. Punktum. Die Möglichkeit, daß keines der Mädchen einem Sohn, sondern nur Töchtern das Leben schenken könnte, schloß er aus.
    Trotzdem war es dem Advokaten gelungen, eine Regelung für den Fall einzufügen, daß der zuerst erbberechtigte Sohn starb. Nur die Tatsache, daß der ganze Besitz sonst dem König oder der Kirche zufallen werde, hatte den Advokaten in diesem äußerst hart geführten Disput siegen lassen. Endlich hatte sein Klient sein Siegel unter die Urkunde gesetzt, wiederum Punktum gesagt und ihn entlassen, ohne ihm auch nur eine stärkende Mahlzeit anzubieten oder heiße Steine für den Fußsack mitgeben zu lassen.
    Der Advokat rieb seine eiskalten Beine gegeneinander und seufzte. Zu ärgerlich, daß seine beiden Söhne schon verheiratet waren. Es hätte natürlich Skandal gemacht, wenn sie, oder auch nur einer von ihnen, eine Näherin geheiratet hätten, aber der Vorteil, die beiden jungen Damen zu seiner Familie zu zählen, wäre eine grandiose Entschädigung für den Verlust der einen oder anderen Einladung in die guten Häuser der Stadt gewesen. Auf alle Fälle wollte er seine Frau und seine Schwiegertöchter dazu anhalten, künftig zumindest ihre Weißwäsche bei ihnen nähen zu lassen. Schließlich würde eines der Mädchen irgendwann, womöglich schon bald, einen vertrauenswürdigen Advokaten brauchen.
    Gerade als er begann, darüber nachzudenken, welchen Betrag er für die heimliche Verfolgung des Lebensweges der künftigen Mutter des künftigen Erben in Rechnung stellen sollte, machte die Kutsche einen Satz. Sie schwankte schwer, und er hörte dieses gräßliche Geräusch, das er schon seit einer Stunde erwartete. Zuerst ein Knarzen, dann brach Holz mit trockenem Knall, die Kutsche rutschte noch einige Fuß weit an der neben dem Fahrweg aufsteigenden Böschung entlang und blieb schließlich tief zur Seite gelehnt liegen.
    Der Advokat stöhnte. Nicht, weil er sich verletzt hatte, die Pferde waren nur im Schritt gegangen, und seine Pelze hatten den Aufprall gut abgefedert, sondern weil er diese Nacht nun nicht in seinem bequemen Bett in der sicheren Stadt verbringen würde, sondern auf einem verlausten Strohsack, umgeben von Gesindel, in einer der kalten Bauernkaten, die sich hinter dem nächsten Hügel duckten. Er hatte es gewußt: Kaltes Wasser am Morgen und ein so exzentrischer letzter Wille mußten ein schlechtes Omen sein.
     
     



1. KAPITEL
    DONNERSTAG, DEN 4. AUGUSTUS,
    VORMITTAGS
     
    Die kleine Lerche hatte schon alle Kirchtürme umrundet, war in etliche Höfe eingetaucht, einer Steinschleuder, einem einäugigen schwarzen Kater und dem Netz eines Vogelfängers entkommen, als sie endlich einen stillen Hof mit einer einladenden Linde entdeckte und sich erschöpft auf einem sanft schaukelnden Ast niederließ. Der Baum stand an einem seltsamen Ort. Der von länglichen Gebäuden aus uralten Steinen gänzlich umschlossene Innenhof lag verlassen, die großen Fenster wirkten wie dunkle Spiegel. Von irgendwoher kam ein monotones Gemurmel, aber niemand war zu sehen, kein Mensch, nicht einmal ein Hund oder ein Huhn, kein Hammer lärmte, keine Säge kreischte – keine Gefahr weit und breit.
    Natürlich war sie dennoch nicht allein. In einer großen Stadt war immer jemand in der Nähe, und hier, hinter den Mauern um den stillen Hof, waren es mehr als zweihundert Schüler. In einem der Räume saß ein Junge an seinem Pult nahe dem Fenster und blickte nicht, wie es sich gehörte, nach vorne zum Lehrer, sondern hinaus in den Innenhof. Das Fenster war nur einen Spaltbreit geöffnet, aber er hatte die Landung des zierlichen Vogels beobachtet und den Gesang gehört. Auch wenn er nicht davon träumte, zu fliegen – die ganz großen Abenteuer waren nicht seine Sache
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