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Die zerbrochene Uhr

Titel: Die zerbrochene Uhr
Autoren: Petra Oelker
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hatte nun wirklich keine Zeit mehr, wenn er nicht auf der Eselsbank landen wollte. »Es geht allen gut. Ich komme euch nachher besuchen. Jetzt muß ich ganz schnell in die Schule. Sag Muto …«
    Da flog plötzlich ein schlanker Jungenkörper in einem kurzen Flickflack heran, ein Wunder, daß er in dem Gedränge seinen Weg fand und nicht unter einen der Wagen geriet, rostrote Haare glitzerten in der Morgensonne, und Muto, denn niemand sonst war der schnelle Akrobat, landete lachend einen Schritt vor Niklas auf seinen Füßen. Es war ein lautloses Lachen. Nein, Muto sprach immer noch nicht.
    »Muto!« Niklas boxte ihm heftig gegen die Schulter. »Du wirst ja immer schneller. Ich muß jetzt in die blöde Schule, aber ich komme nachher zur Krögerin. Oder zum Dragonerstall.«
    In dem Moment begann sich der Lindwurm der Wagen, der mitten auf dem Berg im Gedränge steckengeblieben war, wieder zu bewegen, Niklas trat einen Schritt zurück und sah den Wagen der Komödianten noch einen Moment nach.
    Rosina lenkte den zweiten Wagen, das Mädchen neben ihr mußte Manon sein. Sie schlug die Augen vor all den Gaffern fromm nieder, und Niklas dachte, das Mädchen sehe zwar aus wie Manon, sie könne es aber nicht sein. Die Manon, an die er sich erinnerte, war alles andere als fromm. Beim letzten Besuch der Beckerschen Komödiantengesellschaft in Hamburg – sie hatten im Frühjahr auf der Durchreise nach Schleswig für zwei Wochen an der Elbe Station gemacht – hatte Manon, mit ihren dreizehn Jahren kaum älter als Niklas, sich mit allem Flitter geschmückt, den sie aus den Kostümkörben ihrer Mutter stibitzen konnte. Nun glich sie einer schüchternen jungen Frau, die zu wohlerzogen war, um den Blick neugierig über den alltäglichen Jahrmarkt der Stadt wandern zu lassen. Manon, hatte Rosina im Frühjahr gesagt, verspreche eine große Komödiantin zu werden.
    Den ersten Wagen mit der hohen halbrunden Plane lenkte Titus, ein Mann mit struppigem, strohgelbem Haar, das noch nie eine ordentliche Perücke bedeckt hatte. Titus war zwar der Spaßmacher der Gesellschaft, aber vor kaum jemandem hatte Niklas so viel Respekt. Der Mann war groß und breit wie ein Bär und oft auch genauso brummig. Wenn er schlechte Laune oder einen melancholischen Tag hatte, ging man ihm besser aus dem Weg. Zum Glück kam das nicht oft vor. Neben ihm saß Helena, stolz und aufrecht, wie es sich für die erste Heroine eines Wandertheaters gehörte. Sie hatte sich überhaupt nicht verändert. Ihr dickes kastanienbraunes Haar zeigte noch den gleichen Granatapfelschimmer, ihre grünen Augen hatten den gleichen unternehmungslustigen Blick, und auch heute trug sie ein seidig schimmerndes Schultertuch in all den leuchtenden Farben eines Sommergartens.
    Im Davonlaufen sah Niklas noch den dritten Wagen, hochbepackt wie die anderen, mit festgezurrten Säcken, Kisten und allerlei seltsamen Gerätschaften. Den lenkte Rudolf, Manons Vater, Kulissenmaler und Baumeister. Neben ihm saß kerzengerade Gesine, seine Frau. Unter ihrer makellosen weißen Haube, die Bänder gegen die Mode fest unterm Kinn gebunden, sah auch sie aus wie immer: keinesfalls wie eine Komödiantin und Künstlerin der Kostüme, eher wie die brave Frau eines Predigers. Fritz, beider Sohn und Manons jüngerer Bruder, war nirgends zu sehen. Sicher hatte er die erste Gelegenheit genutzt, um im aufregenden Trubel der Stadt unterzutauchen oder zum Hafen zu laufen. Auch Jean, der Prinzipal der Gesellschaft, fehlte. Gewiß war er wie stets schon einige Tage in der Stadt, um rechtzeitig Musiker für ein kleines Orchester zu engagieren und die nötigen Genehmigungen für das Gastspiel beim Rat zu beantragen.
    Während Niklas die Große Johannisstraße hinunter und über den Plan zum Johanneum rannte, überlegte er, wer der Mann sein mochte, der neben Rosina auf dem Bock des zweiten Wagens saß. Er hatte ihn nie zuvor gesehen, jedenfalls erinnerte er sich nicht daran. Er schien nicht viel über zwanzig Jahre alt zu sein, also etwa so alt wie Rosina und ein knappes Jahrzehnt jünger als Helena, sein hellbraunes Haar war im Nacken gebunden, seine an den Ärmeln abgewetzte Jacke aus etwas zu grünem Samt stammte gewiß aus den Kostümkörben. Seine dunklen Augen hatten den Jungen in der schwarzen Jacke aus teurem Tuch mit kühler Neugier taxiert.
    »… doch soll das Feiern nicht so eng gefaßt werden, daß deshalb andere anfallende Arbeit, die man nicht umgehen kann, verboten wäre.« Finkmeesters mit bedeutsam
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