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Die Zeitung - Ein Nachruf

Die Zeitung - Ein Nachruf

Titel: Die Zeitung - Ein Nachruf
Autoren: Michael Fleischhacker
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wissenschaftlichen Arbeit über
Sekundäre Oralität im Microblogging
spricht Liliana Bounegru von der „Retribalisierung“ unserer Kultur. Es handle sich zwar um geschriebene Unterhaltungen, der Ton in diesen neuen Kommunikationsräumen sei allerdings eher gesprochen als geschrieben. Es handle sich um eine „schnelle Kommunikation mit großen Gruppen von Menschen in einer Geschwindigkeit, die wir eher dem mündlichen Geschichtenerzählen zuordnen würden – mit dem Unterschied, dass der Erzähler und die Zuhörer nicht im selben physischen Raum anwesend sein müssen wie die Zuhörer“.

    Sprechend schreiben, schreibend sprechen: Der Microbloggingdienst Twitter simuliert Gesprächssituationen.
    Bounegru verweist auf die Hauptmerkmale der oralen Kommunikation: Sie ist subjektiv, bezieht sich auf Beobachtbares und Alltägliches, ist nah am menschlichen Leben, es geht um geteiltes Wissen, sie ist „aggregativ“ in dem Sinn, dass sie Konsens durch Dialog und Debatte konstituiert, sie ist „situativ“ in dem Sinn, dass sie unmittelbare Erfahrung höher bewertet als Theorie. „Sekundäre Oralität“ ist im Kern die technologische Verfeinerung dieser Grundeigenschaften, was man daran erkennt, dass sie das Potenzial sowohl für subjektive als auch objektive Perspektiven hat, dass sie die Barrieren von Raum und Zeit überwinden kann, dass sie auf kollaboratives Wissen setzt, aber auch zur Archivierung in der Lage ist, dass sie Situatives und Abstrakt-Analytisches gleichermaßen erfasst. Alle diese Eigenschaften, schreibt Liliana Bounegru, könne man in der „Twitter-Welt“ beobachten: „Obwohl Twitter als Simulation einer Face-to-face-Kommunikation wahrgenommen wird, fragmentiert dieses Medium den Kommunikationsprozess und behält den Fokus auf den Übermittler, der den Input seiner Follower (Tweets und Profile) als Teil seiner Identität integriert, eine Reminiszenz an den geschriebenen Diskurs, weil das Interface von Twitter ein Text-Interface ist.“ 12

    Ein Musterbeispiel „sekundärer Oralität“: der Nachrichtensprecher, der die orale Erzähltradition auf der Grundlage geschriebenen Textes weiterführt.
    In dieser Welt müssen also die klassischen Printmedien „ihren Platz finden“, wie Thomas Pettitt meinte. Zunächst hatte sich mit dem Aufkommen der elektronischen Medien Radio und Fernsehen eine Art komplementäre Aufgabenverteilung zwischen den neuen, postgutenbergschen Medien der sekundären Oralität (gesprochene Inhalte auf der Basis von geschriebenem Text, ergänzt um das Wiedererstehen der „Menschmedien“ im bewegten Bild des Filmes) und den Printmedien angeboten. In der digitalen Welt funktioniert das nicht mehr, weil die neuen Technologien die alten Grenzen aufgelöst haben. Text, Bild, Ton und bewegtes Bild mit Ton sind mit denselben Endgeräten konsumierbar, und die Erwartung der Medienkonsumenten geht zunehmend dahin, von einem Medium mit allen Arten von Information versorgt zu werden. „Fernsehen“ und „Zeitungen“ teilen ein gemeinsames Schicksal: Sie treffen als Anbieter von limitierten Inhalten auf limitierten Transportkanälen zu limitierten Zeiten nicht mehr die Bedürfnisse ihrer Konsumenten.
    Wann wirklich die letzte Tageszeitung gedruckt werden wird und ob die Tageszeitung jemals wirklich in dem Sinn ausstirbt, dass nirgendwo auf der Welt mehr ein Exemplar zu finden ist, kann niemand sagen. Gut möglich, dass sich pro Land ein, zwei gedruckte Tageszeitungen erhalten, die in ihrem Angebot so speziell, in ihrer Zielgruppe so spitz und in ihrem Kundensegment so preisunempfindlich sind, dass sie durch einen simplen „Liebhaber“-Aufschlag von 200 bis 300 Prozent auf den Einzelverkaufspreis noch lange beim bestehenden Geschäftsmodell bleiben können. Wahrscheinlich ist auch, dass die Medienhäuser, die sich inzwischen in der digitalen Welt kräftige Standbeine aufgebaut haben – wie etwa die Axel Springer AG, die sich strategisch auf die nicht publizistischen digitalen Geschäftsfelder konzentriert –, noch lange bereit sind, die Printliebhaber unter ihren Kunden mit einem täglich gedruckten Produkt zu versorgen, das sie querfinanzieren. Wenn ja: Wunderbar!
Der Blick nach vorne ist ein Blick zurück
    Die langfristige Perspektive eines funktionierenden Geschäftsmodells für professionellen Journalismus wird sich allerdings aus dieser defensiven Haltung nicht entwickeln lassen. Das „Prinzip Zeitung“ als ökonomisches und technologisches Gefäß für die dauerhafte
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