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Die Zeitung - Ein Nachruf

Die Zeitung - Ein Nachruf

Titel: Die Zeitung - Ein Nachruf
Autoren: Michael Fleischhacker
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ausgefeilte Nutzung literaler Techniken gekennzeichnet sei.
    Interessante Beiträge zu der Debatte kamen natürlich aus der Mittelalterforschung selbst, wo sich unter dem Begriff „Neue Philologie“ eine Schule entwickelte, der die Annahme zugrunde liegt, dass auch die Schreiber in den mittelalterlichen Schreibstuben keine reinen Kopisten gewesen seien, sondern beim Vervielfältigen bewusst oder unbewusst Dinge wegließen und andere dazufügten. Sie schrieben also zum Teil das, von dem sie dachten, dass es der Autor hätte schreiben sollen. Mitte der 90er Jahre taucht der Begriff „Cyberspace Renaissance“ 5 auf; 1998 veröffentlicht James Dewar ein Positionspapier für die Rand Corporation mit dem Titel
The Information Age and The Printing Press: Looking Backward to See Ahead
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    Inzwischen beschränkt sich die These, dass wir mit dem Schließen der Gutenberg-Klammer dort weitermachen, wo wir am Ende des Mittelalters aufgehört haben, nicht mehr nur auf die Beschreibung der Mediensituation. In einer kanadischen Politikzeitschrift wurde nach einem Vortrag von Thomas Pettitt 7 im Mai 2012 die These publiziert, dass auch das politische Gefüge, das wir derzeit beobachten, sich in eine Richtung entwickle, die dem Westfälischen Frieden ähnle, der 1648, am Ende des Dreißigjährigen Krieges, unterzeichnet wurde (zur Erinnerung: Diese Periode brachte den ersten großen Wachstumsschub für die Zeitungen, weil der Informationsbedarf aus Sicherheitsgründen erheblich gewachsen war).
    So wie Gutenbergs Erfindung die Welt des Wissens und der Information für die nächsten 500 Jahre prägte, prägte der Westfälische Friede mit seinem Konzept der territorialen Souveränität die nächsten 350 Jahre des politischen Denkens und Handelns. Und so wie in den vergangenen Jahrzehnten das Printkonzept an Bedeutung verlor, so verlor im selben Zeitraum das Konzept der Souveränität seinen „eisernen Griff“ auf die internationalen Beziehungen, schreibt Anouk Dey. 8 Es entwickelten sich regionale supranationale Organisationen, die Intervention in souveränen Staaten wurde zur Norm. 2001 wurde „Souveränität“ von der Internationalen Kommission für Intervention und Souveränität vollkommen neu definiert: Der internationalen Gemeinschaft ist jetzt nicht nur erlaubt, sie ist sogar verpflichtet, in Staaten, die scheitern, zu intervenieren, um deren Bevölkerung vor Kriegsgräueln zu bewahren.

    Was in den Medien „vor Gutenberg“ heißt, heißt in der Politik „vor dem Westfälischen Frieden“: Flugblatt zum Friedensschluss (1648).
    Wenn wir sehen wollen, wie es mit Wissen, Kommunikation und Medien in der Zukunft weitergeht, müssen wir in die Vergangenheit schauen, das ist es, was Thomas Pettitt und „diese Dänen“ sagen. Die Zukunft, so scheint es, wird ein Spiegelbild der Vergangenheit sein, das die Veränderungen, die im Wechsel von der Schrift zum bewegten Bild zu den elektronischen Medien zu den digitalen Medien liegen, umkehrt zu den Veränderungen, die im Wechsel von der handschriftlichen Vervielfältigung zum Druck, davor von der Erinnerungskultur zur Schriftkultur und davor von der Improvisationskultur zur Erinnerungskultur zeigt.
    Aber wir reden nicht mehr von den linearen, kodifizierten und kanonisierten Welterklärungsmodellen der Gutenberg-Ära, sondern vom Netzbauplan der Renaissance-Städte. Da findet nicht alles zur gleichen Zeit mit der gleichen Logik statt. Es haben ja auch seinerzeit nicht alle Subkulturen einer kulturellen Formation die Gutenberg-Parenthese zur selben Zeit betreten. Als Shakespeares Sonette bereits gedruckt waren, darauf weist Thomas Pettitt oft hin, wurden die Stücke noch immer improvisiert. Es dauerte wohl bis ans Ende des 18. Jahrhunderts, in die „Klassik“ hinein, bis sich tatsächlich keiner mehr vorstellen konnte, dass es etwas anderes gab als das neue Gutenberg-Denken. Und ab diesem Zeitpunkt begann man jene Reste des Alten, die solche großen Umwälzungen immer überdauern, als „Folklore“ zu bezeichnen.
    In ihrer konkreten Anwendung auf die Printmedien und ihre Zukunftsaussichten sind die Vertreter der Gutenberg-Parenthese sehr vorsichtig. Der Journalismus und die Zeitungen müssten eben ihren Weg finden, „indem sie sich unterscheidbar machen in den überlappenden Formen von Kommunikation in der neuen Welt“. Die Menschen würden jedenfalls schon jetzt nicht mehr denken, dass etwas, wenn oder weil es in der Zeitung steht, wahr sein müsse. Auch Zeitungen verbreiten
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