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Die Zeitstraße

Die Zeitstraße

Titel: Die Zeitstraße
Autoren: Kurt Mahr
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meiner Lage stets und ständig hüten: vor dem Richtig-Bedenken.
     
    8. März 3446.
    Es ist wohl reiner Zufall, daß der sirrhanische Winter ausgerechnet zu der Zeit stattfand, in dem es auch in meiner Heimat kalt wird. Er dauerte indes kaum anderthalb Monate, und es gab nur ein einziges Mal leichten Frost.
    Ein Problem beschäftigt seit geraumer Zeit meine Gedanken. Daß meine und die sirrhanische Kausalität sich voneinander unterscheiden, ist mir seit geraumer Zeit klar. Was für eine Situation aber entsteht, wenn die beiden Kausalitäten einander begegnen, miteinander in Konflikt geraten? Zum Beispiel: Als ich mein erstes und bisher einziges Sprachexperiment über die Bühne rollen ließ, mit dem Satz: »Ich komme von der Erde und bin euer Freund!«, da rief der junge Sirrhaner, den ich zum Objekt meines Versuches auserkoren hatte. »Hört, ihr Bürger! Der Mann-der-rückwärts-geht versteht unsere Sprache!« noch bevor ich das Wiedergabegerät angeschaltet hatte.
    Das war, nach allen vorangegangenen Überlegungen, verständlich. Denn für sein Zeitempfinden ereignete sich sein begeisterter Ruf ja, nachdem er meinen Satz schon gehört hatte. Was aber war mit meinem Zeitempfinden? Wenn mir, nachdem er seinen begeisterten Ruf ausgestoßen hatte, plötzlich die Idee gekommen wäre, das Wiedergabegerät gar nicht einzuschalten? Woher hätte er dann die Berechtigung genommen zu schreien:
    »Hört, ihr Bürger! Der Mann-der-rückwärts-geht versteht unsere Sprache!«
    Wahrscheinlich wird die Menschheit irgendwann einmal im Laufe ihres Weges in die Zukunft eine allgemeine Logik entwickeln, die auch solche Randfälle in sich mit einbezieht und einem Mann wie mir, wenn er ihrer schon habhaft wäre, umfassende Auskunft geben kann. Mir jedoch in meiner Abgeschlossenheit bleibt nichts anderes übrig als anzunehmen, daß der Ausruf des jungen Sirrhaners nicht geschehen wäre, wenn nicht festgestanden hätte, daß ich mich, in seiner Vergangenheit und meiner Zukunft, dazu entschließen würde, den aufgezeichneten Satz auch tatsächlich wiederzugeben.
    Trotzdem bestand für mich die Möglichkeit, daß ich es mir hätte anders überlegen können. Da das Wirken der Natur jedoch unmöglich von Elfur Khans Willensäußerung abhängig sein kann, hätte sich, sobald mein Entschluß feststand, etwas anderes ereignen müssen, was den jungen Sirrhaner zu seinem Ausruf berechtigte. Es hätte zum Beispiel ein anderer Bewohner des Dorfes herbeikommen und ihm ins Ohr flüstern können, er habe gehört, daß ich die sirrhanische Sprache beherrschte. Oder so etwas Ähnliches. Auf jeden Fall mußte der begeisterte Ausruf, da er im Zeitempfinden der Sirrhaner eine logische Daseinsberechtigung hatte, auch in meiner Welt eine haben. Ich konnte durch einen einfachen Willensakt nichts daran ändern.
    Hier also lag das wahre Zeitparadoxon, nach dem Gelehrte und Alchimisten vieler Jahrhunderte so lange und so begeistert gesucht und das sie selbst durch die Erfindung der Zeitmaschine nicht gefunden hatten. Im Aufeinandertreffen zweier verschiedener Kausalitätsauffassungen läßt die Natur ihre Allmacht erkennen, indem sie bestimmt, daß geschehen muß, was geschehen soll.
    Trotz dieser Einsicht kribbelte es mich in den Fingern, das Experiment zu wiederholen. Wenn ich zum Beispiel heute – also zu einem Zeitpunkt, der für die Sirrhaner im Vergleich zu jenem frühen Morgen, als ich meinen Paradesatz losließ, weit in der Vergangenheit liegt – eine lange, wohlgesetzte Rede auf sirrhanisch hielt, dann konnte der damalige Ausruf »Er versteht unsere Sprache!« nur noch als Unsinn gewertet werden. Denn wenn er aufgepaßt hätte, hätte der junge Mann doch wissen müssen, daß ich schon viel früher, nämlich heute, seine Sprache beherrschte.
    Aber da lag der Hund ja schon begraben! Wenn er aufgepaßt hätte, das eben war genau die Forderung, für deren Erfüllung ich nicht garantieren konnte. Und selbst wenn ich sie hätte garantieren können, so blieben der Natur doch immer noch Hunderttausende von Wegen offen, um den Widerspruch dennoch zu beseitigen. Vergeßlichkeit des jungen Sirrhaners zum Beispiel, Vergeßlichkeit des ganzen Dorfes. Und weiß der Himmel, was sonst noch. Ich konnte mich anstrengen, wie ich wollte: ich konnte das Paradoxon nicht herbeiführen.
     
    13. August 3446.
    Ich habe lange keine Aufzeichnung mehr gemacht. Nicht, daß ich nichts zu sagen hätte, im Gegenteil. Aber jedesmal, wenn ich schreibe, muß ich mich in Gedanken mit
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