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Die Zeitstraße

Die Zeitstraße

Titel: Die Zeitstraße
Autoren: Kurt Mahr
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ich in der vergangenen Nacht aufgezeichnet hatte. Dann wartete ich auf eine Reaktion. Der junge Sirrhaner jedoch interessierte sich nur für meine Finger, die soeben das Gerät wieder ausgeschaltet hatten. Erst nach einer Weile blickte er auf und sah mich an. Nach einer Weile stand er auf und verschwand wortlos in seiner Hütte. Ich wartete darauf, daß er wieder zum Vorschein kommen würde. Als er jedoch nicht wieder erschien, packte ich schließlich meine Geräte zusammen und kehrte zum Boot zurück, völlig verblüfft und ratlos, wie man sich denken kann.
    Schließlich legte ich die Aufzeichnung der Worte, die der junge Mann (»Mann« ist unter den Voraussetzungen zu verstehen, die ich zuvor schon einmal andeutete) voller Aufregung gerufen hatte, bevor ich meinen Satz noch hatte abspielen können, dem Translator vor. Dem bereiteten sie keine sonderliche Mühe, dafür mir jedoch um so mehr. Ich mußte mir die Übersetzung dreimal anhören, bevor ich meinen Ohren zu trauen wagte.
    Was der Translator übersetzte, lautete in meiner Sprache:
    »Hört, ihr Bürger! Der-Mann-der-rückwärts-geht versteht unsere Sprache!«
     
    24. Oktober 3445.
    Man mag es mir glauben oder nicht: Im vergangenen Monat habe ich mit dem Wahnsinn gerungen, und selbst jetzt bin ich noch nicht sicher, ob ich ihn wirklich bezwungen habe. Rückwärtsblickend (ich kann das Wort »rückwärts« nicht mehr hören!) erscheint es mir schwer verständlich, daß ich so lange brauchte, um hinter die wahren Zusammenhänge zu kommen. War es vielleicht das Unterbewußtsein, das sich dagegen sträubte, das Bewußtsein zu einer Erkenntnis gelangen zu lassen, die ihm ernsthaften Schaden zuzufügen vermochte? So etwas Ähnliches muß es gewesen sein. Denn ich bin Naturwissenschaftler, mit einer gutentwickelten Gabe für die reine Theorie, und was sich hier vor meinen Augen auftut, ist etwas, womit sich die moderne Physik in den vergangenen Jahrzehnten immer und immer wieder beschäftigt hat: die Subjektivität des Zeitablaufs. Allerdings war diese Beschäftigung rein hypothetischer, sozusagen spielender Natur. Sich solchen Dingen in Wirklichkeit ausgesetzt zu sehen, ist etwas gänzlich anderes, als mit Stift und Folie hinter einem bequemen Schreibtisch »Was-wäre-wenn« zu spielen.
    Das Zeitempfinden der Sirrhaner ist also dem meinen – und damit auch dem aller anderen intelligenten Wesen, die ich kenne – genau entgegengesetzt. Beobachte ich zwei Ereignisse, A und B, wobei A zum Zeitpunkt t a und B zum Zeitpunkt t b stattfindet und wobei weiterhin t a kleiner als t b ist, so komme ich zu der Erkenntnis, daß das Ereignis B später stattfindet als das Ereignis A. Der Sirrhaner, der dieselben beiden Ereignisse beobachtet, kommt zu dem umgekehrten Schluß: für ihn ereignet sich B früher als A.
    Das alleine ist nicht so besonders erschütternd. An den Grundfesten des Verstandes rütteln jedoch die weiteren Schlüsse, die daraus gezogen werden müssen. Da die Natur sich einen Dreck um das Zeitempfinden eines subjektiven Verstandes kümmert und die Sirrhaner – die Biologie ihrer Fortpflanzung werde ich schon noch rechtzeitig erkunden! – ebenso wie alle anderen Geschöpfe als Junge geboren werden und als Alte sterben, muß der Sirrhaner den Zustand höchster geistiger Reife unmittelbar nach seiner Geburt durchmachen und sich mit dem Bewußtseinsinhalt eines lallenden Säuglings ins Grab legen. Natürlich empfindet er die Reihenfolge nicht als umgekehrt. Als alter Mann, mit einem Bein schon im Grabe stehend, erblickt er zum ersten Mal das Licht der Welt. Während er sich aus dem Greisenalter in die sogenannten »besten Jahre« und von dort durch die Jugend bis zum Säugling entwickelt, wachsen sein Wissen und seine Weisheit. Am Ende seines Lebens verschwindet er im Leib seiner Mutter, um niemals wieder gesehen zu werden.
    Kein Wunder, daß ich den Sirrhanern einen ganzen Monat lang aus dem Weg gegangen bin. Ich wollte mit dieser Monstrosität nicht öfter als unbedingt notwendig konfrontiert werden. Es war schon schlimm genug, daß ich nächtelang wach lag, sinnend, grübelnd, mit Mühe meinen Verstand zusammenhaltend, um die Konsequenzen zu ergründen, die sich für mein Zusammenleben mit den Sirrhanern aus der Umkehr des Zeitempfindens ergaben.
    Sie nannten mich den Mann-der-rückwärts-geht. Das war einer der entscheidenden Clous gewesen. Für den jungen Mann, den ich an jenem Morgen vor seiner Hütte traf, um ihm stolz meinen ersten sirrhanischen Satz zu
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