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Die Zeitstraße

Die Zeitstraße

Titel: Die Zeitstraße
Autoren: Kurt Mahr
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Gehör zu bringen, spielte sich die Begegnung folgendermaßen ab: Er sah mich, rückwärtsgehend, aus dem Gesträuch kommen, das das Dorf umgibt. (Das war, als ich genug davon hatte, weiter auf ihn zu warten, nachdem er in seiner Hütte verschwunden war, und mich verblüfft und verwirrt wieder auf den Heimweg machte.) Dann sah er mich das Wiedergabegerät einschalten (als ich es ausschaltete). Danach hörte er den Satz:
    »Ich komme von der Erde und bin euer Freund.«
    Dann sprang er auf und schrie voller Begeisterung:
    »Hört, ihr Bürger! Der-Mann-der-rückwärts-geht versteht unsere Sprache!«
    Für mein Empfinden geschah das, bevor er meinen Satz überhaupt gehört hatte. Nicht aber für seines. Schließlich sah er mich aufstehen, meine Geräte unter den Arm nehmen und rückwärtsgehend in Richtung meines Bootes entschwinden. (Das war, als ich voller Erwartung im Dorf ankam.)
    In meinen Wachträumen habe ich Visionen, wie die Sirrhaner mich eine Frucht essen sehen. (Ich habe mich inzwischen an einige ihrer eingeborenen Früchte gewöhnt und verwende sie, um ein wenig Abwechslung in meinen sonst eintönigen Speiseplan zu bringen.) Ich hebe die Hand zum Mund, die Frucht quillt mir breiartig über die Lippen, wird zu festen Stücken, die sich zusammenfügen. Ich strecke die Hand aus und hänge die intakte Frucht wieder an den Zweig, an den sie von rechts wegen gehört.
    Die sirrhanische Kausalität muß von der unseren grundsätzlich verschieden sein. Die Schwerkraft zum Beispiel ist in ihren Augen eine kuriose Macht, die Dinge von der Oberfläche des Planeten weg nach oben stößt. Der Sirrhaner sieht die Frucht nicht vom Baum fallen und auf dem Boden liegenbleiben. Er sieht sie zuerst am Boden liegen und dann zum Zweig hinaufsteigen.
    Und was der Dinge mehr sind. Wer soll da noch seine geistige Gesundheit bewahren?!
     
    3. Januar 3446.
    Zu Silvester habe ich mir von den Sirrhanern ein Gefäß ihres Bieres geben lassen. Ich nenne es Bier, weil es schäumt, wenn man es richtig einschenkt. Es hat jedoch einen ganz anderen Geschmack und ist wesentlich alkoholreicher als das irdische Bier. Mit Hilfe dieser Gabe betrank ich mich und kam auf diese Weise heilen Sinnes ins neue Jahr.
    Ich isoliere mich nicht mehr von den Sirrhanern. Vor mir liegt die Aussicht, daß ich mein Leben auf Sirrha beenden werde. Da tue ich am besten, mich mit den hiesigen Bewohnern zu arrangieren. Ihr merkwürdiges Benehmen ist mir nun kein Rätsel mehr. Unsere Bekanntschaft miteinander wird immer kürzer. Am besten kannten sie mich an dem Tag, an dem ich auf Sirrha landete. Da sahen sie, wie ich rückwärtsgehend in mein Boot kletterte und davonflog. Für sie war das das Ende unseres Zusammenseins.
    Ich mache keine Versuche mehr, mit den Sirrhanern zu sprechen. Nur hier und da mache ich noch Aufzeichnungen, die ich mir von meinem Translator übersetzen lasse. Auf diese Weise lerne ich meine rückwärtsdenkenden Freunde immer besser kennen und kann mich auf sie einstellen. Erst jetzt erkenne ich so richtig die Weisheit der Natur, die sich hinter dem sirrhanischen Januskopf und dem merkwürdig gelagerten Knie verbirgt. Hätten die Sirrhaner, wie ich, nur ein Gesicht oder könnte man an der Beugung ihrer Knie erkennen, in welcher Richtung sie sich bewegen, dann wäre mir schon am ersten Tage aufgefallen, daß sie ständig rückwärts gehen (für meine Begriffe), ebenso, wie ich in ihren Augen rückwärts gehe.
    Gestern sah ich zum ersten Mal, wie das Dorf regiert wird. Es gibt eine Versammlung von Ratsherren, die in einem Gebäude des Dorfes tagt und wohnt. Man bekommt die Herren des Rates nur selten zu sehen. Zweimal am Tag, einmal am frühen Morgen und dann wieder am späten Abend, wenn ihre Ammen sie spazierentragen oder die Wärter sie vorsichtig spazierenführen. Ihre Haut ist für die harte Strahlung der Sonne äußerst empfindlich, darum verbringen sie den heißen Teil des Tages im Innern der Beratungshütte.
    Sie sind Kleinkinder und Säuglinge, die Hälfte von ihnen noch nicht einmal in der Lage, auf eigenen Beinen zu stehen. Aber ihre Worte sind weise. Ich machte eine kurze Aufnahme, nicht mehr als fünf Minuten lang. In diesen fünf Minuten wurde beschlossen, daß so rasch wie möglich zwanzig weitere Wildfruchtbäume veredelt werden sollten, »damit wir bei der nächsten Ernte mehr Früchte aufhängen können«.
    Das Bild der beratenden Säuglinge ist erschütternd, wenn man es richtig bedenkt. Aber gerade davor muß sich ein Mann in
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