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Die Zeit, die Zeit (German Edition)

Die Zeit, die Zeit (German Edition)

Titel: Die Zeit, die Zeit (German Edition)
Autoren: Martin Suter
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eingerahmt von seinem unnatürlich schwarzen Haar und dem eigenartig getrimmten Bart. Es war zu einem der Apfelbäume gewandt.
    Taler stand so reglos am Fenster wie Knupp.
    Der Vorhang fiel zurück, das Gesicht war verschwunden.

2
     
    Das »Guten-Morgen-Peter« von Sandra Dovic am Empfang klang seit zehn Tagen wieder ganz normal. Sie schien am ersten Jahrestag von Lauras Tod beschlossen zu haben, auf den mitfühlenden Unterton zu verzichten und im Umgang mit Taler wieder zur Tagesordnung überzugehen.
    »Guten Morgen«, antwortete er und ging an ihr vorbei zum Lift.
    Ein guter Morgen war es nicht. Peter war bis weit nach Mitternacht aufgeblieben. Immer wieder hatte er sich ans Fenster gestellt, den vom sparsamen Licht der Straßenlampe kaum erhellten Garten jenseits der Straße studiert und versucht, herauszufinden, was dort anders war. Er hatte den alten Knupp die Läden des Wohnzimmerfensters schließen sehen.
    Er hatte beobachtet, wie Stunden später die Lichtstreifen erloschen und kurz darauf im ersten Stock das Fenster geöffnet wurde. Knupps Umrisse waren zu erahnen.
    Als Knupp verschwunden war, war die Flasche Antinori leer. Lauras volles Glas stand noch auf dem Tisch, aber er rührte es nicht an.
    Er steckte eine Marlboro Gold an und legte sie in den Aschenbecher. Er selbst hatte nie geraucht. Aber Laura. Auch der Duft ihrer Marlboro Gold brachte sie ihm etwas näher.
    Er öffnete eine neue Flasche, obwohl er wusste, wie das endete: Er würde Rotz und Wasser heulen und irgendwann im Morgengrauen in zerknitterten Kleidern auf dem Sofa erwachen, mit trockener Zunge und pochendem Schädel.
    In seinem Büro stand ein zweiter Schreibtisch. Er war leer. Sein Bürokollege hatte die Firma kurz vor Lauras Tod verlassen, und sein Nachfolger war in einem anderen Raum untergebracht worden. Taler wusste nicht, ob aus Rücksicht auf ihn und seinen Schmerz oder aus Scheu vor der Aura des Todes, die ihn umgab.
    Es gab Tage, da hätte er lieber Gesellschaft gehabt, aber an einem Morgen wie diesem war er froh, unbehelligt zu bleiben. Er riss das Fenster auf, hängte sein Jackett in den Schrank, startete den Computer, holte sich einen doppelten Espresso vom Kaffeeautomaten und trank ihn stehend in kleinen Schlucken.
    Über Nacht war aus dem zaghaften Frühsommer wieder ein resoluter Spätwinter geworden. Kalter Regen trommelte auf das verzinkte Dampfabzugsrohr des Personalrestaurants und auf die Müllcontainer im trostlosen Innenhof.
    Unter dem Vordach des Hintereingangs standen zwei Mitarbeiter und rauchten. Peter Taler hatte nach Lauras Tod mit dem Gedanken gespielt, mit dem Rauchen anzufangen. Aber dass sie rauchte und er nicht, war in ihrer Beziehung eine so unumstößliche Tatsache gewesen, dass es ihm wie ein Verrat vorgekommen wäre, jetzt, wo sie nicht mehr da war, damit anzufangen.
    Es fiel ihm schon schwer genug, es nicht als Verrat zu empfinden, dass er – vorläufig – weiterlebte. Die einzige akzeptable Begründung dafür war, dass er Lauras Mörder finden musste. Danach war Schluss. Für ihn selbst und für diesen.
    Taler schloss das Fenster, setzte sich vor den Bildschirm und nahm den Stoß Belege aus dem Eingangskorb.
    Seit acht Jahren arbeitete er bei Feldau & Co., einem mittelgroßen, alteingesessenen Bauunternehmen, in der Finanzabteilung. Das klang besser, als es war. Er kümmerte sich hauptsächlich um die Kreditorenbuchhaltung und verbrachte viel Zeit mit dem Erfassen von Belegen. Wenn er damit nicht ausgelastet war, setzte man ihn in der Debitorenbuchhaltung ein. Und in der Zeit vor den Abschlüssen holte ihn Gerber für Spezialeinsätze in der Bilanzbuchhaltung.
    Gerber war sein direkter Vorgesetzter, Prokurist und zweiter Mann der Finanzabteilung. Eine Position, die ursprünglich für Taler vorgesehen gewesen war, die man ihm allerdings nach Lauras Tod »nicht mehr zumuten wollte«. Wie sich Perlucci, der Finanz-, und Weingartner, der Personalchef, feinfühlig ausgedrückt hatten. Taler blieb, wo er war, und behielt seinen etwas schäbigen Titel »Sachbearbeiter«. Es war ihm egal gewesen.
    Kurz vor zehn betrat Kübler das Büro, wie immer ohne anzuklopfen. Er brachte einen neuen Packen Belege, die er unten im Postbüro geöffnet und mit dem Eingangsstempel versehen hatte.
    Kübler war zuständig für Post, Archiv, Material und gute Laune. Er versuchte, Feldau & Co. mit Sprüchen und Witzen zum Lachen zu bringen, was ihm bei Taler nicht gelang. Schon als Laura noch lebte, hatte er ihm nie den
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