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Die Zeit, die Zeit (German Edition)

Die Zeit, die Zeit (German Edition)

Titel: Die Zeit, die Zeit (German Edition)
Autoren: Martin Suter
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er etwas beobachtet habe oder ob ihm auf der Straße etwas aufgefallen sei. Sagt aus, etwas sei anders gewesen, aber er könne nicht sagen, was.« Bei dieser Aussage war Taler geblieben. Bis heute konnte er nicht sagen, was es gewesen war. Aber eines Tages würde er es herausfinden. Und dann würde er dieses Schwein kriegen.
    Doch so angestrengt er auch versuchte, das Bild jenes Abends zu rekonstruieren, die Zeit ließ es erodieren. Und mit dem Bild verblasste auch das Gefühl, das, was anders gewesen war, läge ihm auf der Zunge wie ein kurz entfallenes Wort. Da nützte es auch nichts, dass er die Wohnung unverändert gelassen hatte. Und dass er – im Wissen, dass Geruch, Geschmack und Musik Erinnerungen zurückbringen können – immer wieder Spaghetti Pomodoro kochte und Back to Black von Amy Winehouse spielte. Wie an jenem Abend.
    Ein unregelmäßiges Geräusch drang in sein Bewusstsein. Er eilte in die Küche. Das Spaghettiwasser kochte über und verzischte auf der Herdplatte. Er schob den Topf beiseite und schaltete die Platte aus. Er würde sie später wieder anschalten und die Spaghetti kochen. Er wusch einen Zweig Basilikum kurz unter dem Wasserhahn, legte ihn in die Pfanne zur Tomatensauce, deckte sie wieder zu und ging zurück ins Wohnzimmer.
    In ein paar Fenstern waren Lichter angegangen. Die Dämmerung begann, das Grün der Hecken zu trüben. Die dreifarbige Katze sprang auf den Zaun, verharrte einen Augenblick auf einem seiner Pfähle und setzte mit einem großen Satz über das Beet ins Gras.
    Die Straßenlaterne hatte sich eingeschaltet, ihr kaltes weißes Leuchten begann sich gegen das schwindende Tageslicht durchzusetzen.
    Wieder ging er in die Küche. Er nahm den Deckel von der kleinen Pfanne, um den Duft von Tomaten und Basilikum freizulassen, und schaltete die Herdplatte für das Spaghettiwasser wieder an.
    Dann deckte er den Tisch für zwei Personen, entkorkte eine Flasche Antinori, schenkte beide Gläser voll, nahm eines und begab sich wieder auf seinen Posten.
    Im Garten auf der anderen Straßenseite stand jetzt der alte Mann, der dort wohnte, mit dem Gartenschlauch neben einem der Apfelbäume und goss ihn mit weichem Strahl. Er hielt den Kopf gesenkt, als benötige die Arbeit seine volle Konzentration.
    Auch das nichts Besonderes, er arbeitete oft im Garten. Mähte, schnitt, hackte, stach um, rechte, goss und pflanzte. Und verbrannte trotz behördlichem Verbot im Herbst seine Gartenabfälle.
    Er hieß Knupp und war ein Sonderling. Er pflegte keinen Kontakt mit der Nachbarschaft. Er grüßte nicht und erwiderte auch keine Grüße. Er führte keine Gespräche über den Gartenzaun, würdigte niemanden eines Blickes, verscheuchte sogar die Katzen.
    Nein, das stimmte nicht ganz. Er verscheuchte eine ganz bestimmte Katze, die dreifarbige. Die anderen duldete er. Taler hatte ihn sogar schon dabei beobachtet, wie er die Geduldeten fütterte. Wie er ein Tellerchen auf das Fenstersims stellte, auf dem – aus der Kürze der Mahlzeit zu schließen – ein paar wenige Essensreste lagen.
    Das Wasser kochte wieder. Taler riss die Packung auf, schüttete die Spaghetti ins Wasser und rührte ein paarmal um, damit sie nicht aneinanderklebten. Er stellte den Timer auf acht Minuten und ging damit zurück zum Fenster.
    Knupp war verschwunden.
    Beim Läuten des Timers schreckte er zusammen. Er ging zurück in die Küche, goss die Spaghetti ins Sieb und viel Olivenöl in den leeren Topf. Dann kippte er die Pasta zurück, goss noch mehr Olivenöl darüber, wendete sie ein paar Mal mit der Spaghettizange, schöpfte eine Portion in den Teller, tat Tomatensauce und geriebenen Parmesan dazu und setzte sich damit an den Esstisch im Wohnzimmer.
    Der Duft des Essens, der Geschmack des Weines, das Dämmerlicht im Zimmer, der leere Teller, der auf Laura wartete – alles wie damals. Und – zum ersten Mal seither – auch das unbestimmte Gefühl, dass da draußen etwas nicht stimmte.
    Er stand auf und ging ans Fenster. Noch nie war er der Lösung so nahe gewesen.
    Aber so sehr er sich sammelte, so angestrengt er sich versenkte in das Bild des abendlichen Quartiersträßchens: Die Erleuchtung blieb aus. Doch etwas sagte ihm, dass das, was anders war, mit dem gelben Einfamilienhaus gegenüber zu tun haben musste.
    In den Zimmern brannte kein Licht. Aber die Straßenlaterne erhellte die Fassade.
    Ein Vorhang wurde beiseitegeschoben. Im rechtwinkligen Dreieck, das dieser freigab, war das Gesicht des alten Mannes zu erkennen,
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