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Die Zarin der Nacht

Die Zarin der Nacht

Titel: Die Zarin der Nacht
Autoren: Eva Stachniak
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unscheinbares Zeichen, und doch eröffnet es eine ganze Welt von Möglichkeiten. Es bedeutet, dass Sophie vielleicht nicht nach Zerbst zurückkehren muss, dass sie, statt immer nur ihre Gedanken hinter einem verbindlichen Lächeln zu verstecken, kühn voranschreiten wird. Es eröffnet atemberaubende Aussichten, es bedeutet Frühling, der den Schnee schmelzen lässt.
    Sie begehrt diese Welt so sehr, dass ihre Hand sich um den Stoff ihres Rocks krampft. Sie denkt an ein nervös tänzelndes Pferd vor dem Start eines Rennens. Es schlägt mit dem Schweif, die angespannten Muskeln unter der Haut zittern vor Erwartung; gleich wird es lospreschen – wehe dem, der ihm im Weg steht.
    Die Höflinge recken die Hälse. Maman hinter ihr entschlüpft ein gepresstes Aufatmen.
    Â 
    Schlag die Augen nieder, Sophie!
    Nimm dich in Acht! Der kleinste Fehler kann alles verderben.
    Â 
    Die Kaiserin springt auf. Der glitzernde Stoff ihres Kleids ist sicher schwer und steif, aber sie bewegt sich wie eine Ballerina, den Kopf hoch erhoben, den Rücken ganz gerade, die Schritte leicht und graziös. Sie trägt scharlachrote Seide, auf die mit Gold kleine Blüten gestickt sind. Ihr Umhang ist mit Hermelin gefüttert. Um ihren Hals ist eine dreifache Kette aus schwarzen Perlen geschlungen. »Protzig … ordinär … furchtbar russisch« nennt Maman ihren Stil.
    Â»Meine geliebten Mondkinder«, sagt die Kaiserin gerührt. Ihre fülligen und doch starken Arme umschlingen die beiden und drücken sie fest an einen wogenden Busen. »Meine Sophie, du wirst mich nicht enttäuschen.«
    Sophie spürt etwas Hartes an ihrer Stirn, das einen Abdruck auf ihrer Haut hinterlassen wird. Sie atmet die kaiserlichen Düfte ein: Moschus, Rosenwasser, Bittermandelöl und den scharfen Brunstgeruch von Schweiß.
    Â 
    Â»Schmink dir dieses dumme Grinsen ab, Sophie. Du bist noch nicht seine Frau.« Mamans Lippen verziehen sich zu einem gezwungenen Lächeln. Sie befeuchtet eine Fingerspitze und streicht damit die Braue ihrer Tochter glatt. Oder eine Haarsträhne unter die neue Samthaube.
    Â»Hör auf mich, Kind!«
    Sie ist brav und folgsam. Sie hört auf Maman. Sie vermeidet es, Leute anzustarren, besonders die Kaiserin, die vor dem gesamten Hof verkündet, diese kleine Prinzessin aus Zerbst werde Peter zu einem echten Mann machen.
    Sie achtet darauf, immer einen Schritt hinter Maman zu gehen und nie als Erste zu sprechen. Wenn eine Frage an sie gerichtet wird, antwortet sie kurz. »Es gefällt mir sehr gut in Russ
land … Nein, ich habe vorher noch nie so viel Schnee gesehen … Ja, die Kaiserin ist überaus freundlich und gütig … Der Kronprinz sieht wirklich sehr gut aus.«
    Ihre Stimme ist sanft. Sie hält den Blick gesenkt auf Rocksäume und Schuhe. Aber ein kaiserliches Versprechen, so flüchtig und unscheinbar es auch sein mag, ist einzigartig, unwiederbringlich. Eine alte Weisheit.
    Die Häuser hier in Moskau sind meistens aus Holz gebaut. Die Straßen winden sich labyrinthisch durch die Stadt und verzweigen sich in lauter Gassen und Gässchen. Die Schlitten müssen oft lange Umwege fahren, um ihr Ziel zu erreichen. Vor den Metzgerläden ist der Schnee schmutzig rot von frischem Blut. Von dem Gestank, der von einer Gerberei herweht, wird ihr schlecht.
    In Sankt Petersburg, das sie nur kurz auf der Reise nach Moskau kennengelernt hat, gab es imposante Paläste aus Stein. Die Straßen waren breit und schnurgerade. Auf dem zugefrorenen Fluss stand ein riesiges Gerüst aus Balken, der »Eisberg«. Bunt angemalte Schlitten sausten dort auf einer steilen Eisbahn hinunter, schneller als galoppierende Pferde, schneller als der tobende Nordwind. »Nein, das ist nichts für dich«, sagte Maman. »Viel zu gefährlich.«
    Aber sie durfte die Elefanten sehen. Die faltige graue Haut, die gelben Säbel ihrer gebogenen Stoßzähne. Ihre Ohren, an den Kopf angelegt wie riesige Segel.
    An jenem trüben Nachmittag, im Licht von Fackeln und brennendem Teer in großen Tonnen balancierten die grauen Riesen schwankend auf den Hinterbeinen und winkten mit den Vorderbeinen. Sie spielten Ball, warfen Reifen in die Luft und fingen sie wieder auf.
    Sie jauchzte und klatschte in die Hände, bis es wehtat. Fürst Naryschkin, der sie mitgenommen hatte, sagte ihr, ein Elefant könne einem wilden Bären
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