Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Zarin der Nacht

Die Zarin der Nacht

Titel: Die Zarin der Nacht
Autoren: Eva Stachniak
Vom Netzwerk:
zu lösen, muss man Muster suchen, wiederkehrende Sequenzen.
    Aber warum fängt Platon zu pfeifen an und dann zu singen?
    Â 
    Russland reicht weiter und höher,
    Ãœber Gipfel und Meere.
    Â 
    Wie kann sie ein Rätsel lösen, das dauernd seine Gestalt verändert, das aufleuchtet wie ein Glühwürmchen und im nächsten Moment im Dunkeln verschwindet? Wie soll sie es lösen, wenn das Einzige, dessen sie sicher sein kann, der brennende Schmerz in seiner Stimme ist?
    Â 
    Â 
    9.11 Uhr
    Â»â€¦ hat schon wieder die ganze Nacht geweint … armes Kind … Es ist nicht das Ende der Welt, das sagt Majestät ihr immer wieder, aber die jungen Leute wollen nicht hören …«
    Die Stimmen im Vorzimmer brechen seitlich aus wie scheuende Pferde. Manchmal dringen ganze Sätze durch die Wand, manchmal nur einzelne Worte.
    Â 
    Â»Man leidet eben mehr, wenn man jung ist.«
    Â»Es ist eine Schande.«
    Â»Wie konnte er nur …«
    Â»Dieser Dummkopf ist …«
    Â 
    Sie sollte die Ohren spitzen und lauschen, was die Dienstboten reden. Es ist immer nützlich, wenn man etwas erfährt, was nicht für einen bestimmt ist.
    Aber die Kopfschmerzen verschwinden nicht. Das Hämmern in ihren Schläfen macht sie ganz benommen. Die Stimmen, ihr eigenes Stöhnen und das Dröhnen ihres Pulsschlags hüllen sie ein wie dichter Nebel. Ihre Handflächen sind schweißnass.
    Es ist nicht das erste Mal, dass solche Kopfschmerzen sie quälen. Und auch die grellen Blitze sind ihr nicht neu. Das alles kommt nicht überraschend; sie ist überanstrengt, sie arbeitet zu viel. Aber was soll sie machen? Was sie heute geschafft hat, löst sich morgen schon wieder in Nichts auf. Der Druck, der auf ihr lastet, wird immer schwerer, kein Wunder, dass es ihr schlechtgeht.
    Der Feldzug in Polen ist beendet, aber der Teilungsvertrag noch nicht fertig ausgehandelt. Die Preußen wollen Warschau behalten und sind nicht bereit, im Gegenzug irgendetwas von Wert abzutreten. Wie immer sind sie der Meinung, dass die Russen für sie die Kastanien aus dem Feuer holen sollen.
    Nationen sind wie Kaufleute. Sie gehen Bündnisse ein und
brechen sie nach den Regeln kaufmännischer Vernunft – es ist immer nur eine Frage der Kosten auf der einen und des Gewinns auf der anderen Seite. Ein Land, das nicht nach Expansion strebt, wird zur Beute fremder Mächte. Es gibt keinen Stillstand. Reiche müssen wachsen oder untergehen.
    Darum treibt sie Raubbau mit ihrer Gesundheit. Im Dienst ihres Landes. Arbeiten andere Herrscher auch so hart wie sie? Immerzu, ohne Pause?
    Sie braucht Ruhe.
    Â 
    Die Erde birgt viele Geheimnisse.
    Â 
    Ein guter Gedanke. Nützlich und angenehm.
    In Sibirien haben Bauern Elfenbein und riesige Knochen ausgegraben. »Eine Laune der Natur, Majestät«, sagen die Wissenschaftler. Aber Knochen und Elfenbein wachsen doch nicht so einfach aus dem Nichts in der Erde. Es muss früher einmal Elefanten in dieser Gegend gegeben haben, wo heute nichts als Eis und Schnee ist. Daran sieht man, dass auf der Welt die merkwürdigsten Verwandlungen möglich sind, wenn man nur Geduld hat.
    Ein guter Gedanke, sagt sie sich . Schreib ihn nachher gleich auf und verwende ihn im Gespräch mit Alexandrine.
    Â 
    Die Geräusche draußen werden lauter und wieder leiser. Füße trampeln. Scheppernd fällt etwas hinunter. Die Krallen des Hundes kratzen auf dem Parkett. Die Stimmen klingen, als tönten sie aus einem Brunnenschacht.
    Die Hofdamen plaudern. Man hört die Rivalität zwischen ihnen. Anjetschka vertritt sehr bestimmt ihren Standpunkt. Wischka widerspricht mit gemessenen Worten, aber hartnäckig. Es kommt nicht darauf an, worüber sie streiten. Den Preis von Seidenstoffen, Salz, Wein von der Krim. Ob die Newa bald zufrieren wird. Voraussagen, sogar die von ausgewiesenen Fach
leuten, sind nie sehr verlässlich. Der Brustton der Überzeugung beweist nicht viel.
    Es geht darum, Überlegenheit zu demonstrieren.
    Â 
    Â 
    9.11 Uhr
    Der Sitz ist weich gepolstert. Wenn sie sich bewegt, knarzt das Leder leise. Vor und zurück. Ganz langsam und sanft. Das Schaukeln hat etwas Beruhigendes. So muss sich ein Säugling in der Wiege fühlen.
    In ihrem Bauch ein Pochen. Sie spürt, wie das Blut sich staut. Als ob ihre Regel wieder einsetzte. Das kann nicht sein.
    Die Lichtblitze haben aufgehört. Jetzt schwimmen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher