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Die Zarin der Nacht

Die Zarin der Nacht

Titel: Die Zarin der Nacht
Autoren: Eva Stachniak
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brachte?
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    Â»Wie viel Uhr ist es?«
    Â»Noch nicht spät, Adrian Mosejewitsch«, antwortet jemand. Eine Frau lacht. Eine Tür wird geöffnet und wieder geschlossen. Gedämpfte Schritte. Ein Hund bellt. Ein Fenster klappert, sie hört einen Knall, dann ein dumpfes Poltern.
    Â»Du kennst ihn doch. Sein Vater hatte eine Buchhandlung an der Großen Perspektivstraße, nicht weit von der Fontanka. Aber dann ist der Laden überschwemmt worden.«
    Â»Was kritzeln Sie da, Adrian Mosejewitsch? Trinken Sie eine Tasse Tee. Es ist kalt heute.«
    Â»Der Hund ist immer noch nicht wieder aufgetaucht. Glauben Sie, jemand hat ihn gestohlen?«
    Â»Dann hätte der Dieb ihn zurückgebracht und die Belohnung kassiert.«
    Â»Das arme Vieh ist sicher tot.«
    Â 
    Die Stimmen draußen schwellen an und ebben ab, Geflüster mündet in lang anhaltendes Seufzen. Leises Rumpeln ist zu hören. Es klingt wie das von hölzernen Karren auf abschüssiger Eisbahn, die immer mehr Fahrt aufnehmen, bis sie schließlich so schnell werden, dass nichts und niemand sie mehr aufhalten kann.
    Â 
    Â 
    9.09 Uhr
    Sie schafft es, ihre Unterröcke zu raffen und sich auf dem Sitz niederzulassen. Wie eine große Glucke auf ihrem Nest. Das Polster seufzt leise unter ihrem Gewicht, das weiche Leder des Überzugs ist kalt und klebrig.
    Die Stimmen im Vorzimmer werden leiser, immer wieder tritt einen friedvollen Moment lang Stille ein. Die Welt um die Kaiserin herum wird langsamer. Der Schmerz ist immer noch da, aber er fühlt sich an, als wäre er weiter weg, unscharf, zurückgedrängt, leichter zu ertragen. Die Zeit kriecht im Schneckentempo. Es gibt keinen Grund zur Eile.
    Die Muskeln in ihrem Bauch werden schlaff, ein heißer Strom Urin ergießt sich. Eine Weile lang will sie nichts als einfach dasitzen und das tiefe Wohlgefühl von Entspannung und Erleichterung genießen. Sich gehen lassen. Einfach nur sein.
    Aus der Stille, in die sie versunken ist, kommt wieder eine Erinnerung. Ein Äffchen namens Plaisir, ein Geschenk des französischen Gesandten. Als sie ihn bekam, war er noch ganz jung, fast ein Baby. Er trug ein Samtjäckchen, Kniebundhosen und einen Federhut. Plaisirs winzige Pfoten umklammerten ihren Finger, wenn sie ihn auf den Arm nahm, und er vergrub sein rosa Gesicht in den Falten ihres Kleids. Er hatte große, flehende Augen.
    Cebus capucinus. Ein Weißschulterkapuziner.
    Die zwei Diener, die auf ihn aufpassen sollten, hatten Narben an Händen und Unterarmen von seinen Krallen und Zähnen. Er war kaum zu bändigen. Sobald er es schaffte, seinen Wärtern zu entkommen, lief er ins Arbeitszimmer der Kaiserin. Er zog alle Schubladen heraus, zerfetzte Papiere, warf das Tintenfass um, zerkaute Schreibfedern, pinkelte auf ihren Stuhl. Er steckte seinen Finger in seinen Hintern und schmierte Kot an die Tapeten. Wenn sie ihn anschrie, hielt er sich die Ohren zu und machte ein so grenzenlos unglückliches Gesicht, dass sie lachen musste.
    Plaisirs letzter Streich war, dass er einen Tiegel mit Gesichtscreme zerschmiss und den Inhalt aufaß. Ein paar Stunden später verkroch er sich unter einen Sessel im kaiserlichen Schlafzimmer und ließ sich nicht mehr hervorlocken. »Lasst ihn in Ruhe«, sagte die Kaiserin zu den Zofen. »Wenn er Hunger hat,
kommt er schon wieder heraus.« Aber Plaisir kam nicht. Er rollte sich zusammen und starb.
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    9.10 Uhr
    Um aufzustehen, muss man viele Muskeln und Gelenke steuern. Und sie ist jetzt schon so weit, dass jeder einzelne Herzschlag ihre ganze Aufmerksamkeit erfordert.
    Platons heisere Stimme, die durch ihre Gedanken hallt, stört ihre Konzentration. »Warum kränkst du mich, Katinka? Du bist alles, was ich habe. Ohne dich bin ich Staub.«
    Die Stimme ihres Geliebten klingt eindringlich, ja flehend. Im Geist sieht sie ihn neben sich stehen in seiner ganzen überwältigenden dunklen Schönheit, die klare Linie seines Profils, Nase, Kinn, Lippen. Wenn sie zeichnen könnte, würde sie ihn mit schwarzer Tusche zeichnen. Und dann die Linien verwischen, damit er weicher wirkt.
    Habe ich dich gekränkt? Wie? Und wann?
    Das ist ein Rätsel, das sie lösen könnte, wenn sie nur lange genug darüber nachdächte. Mit chiffrierten Botschaften kennt sie sich aus. Zahlen, die in Buchstaben verwandelt werden müssen. Wörter, die für andere Wörter stehen. Um so ein Rätsel
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