Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Zarin der Nacht

Die Zarin der Nacht

Titel: Die Zarin der Nacht
Autoren: Eva Stachniak
Vom Netzwerk:
zueinanderpassen. Ihrem Gesicht ergeht es nicht besser – nichts als schlaffes Fleisch und Runzeln; der Hals erinnert an den eines Truthahns. Über der Nasenwurzel steht weiß eine Hautfalte, die tränenden Augen sind blutunterlaufen, die Lider zwinkern nervös. Schön war ich nie, denkt sie. Aber was hatte Helena von Troja von ihrer Schönheit? Männer, die sie sich nicht ausgesucht hatte, und all die Gräuel des Kriegs.
    In dem Klosett riecht es leicht nach nassem Tierfell und modrigen Wurzeln. Die Tür fällt mit einem dumpfen Geräusch zu. Das sonderbar schrille Quietschen der Angeln klingt nach wie der Ton einer Stimmgabel, schwirrt immerzu um ihren Kopf herum, als wäre die Zeit in einer Endlosschleife gefangen.
    Ihre Finger, die sich ängstlich festklammern, erinnern an die
Krallen eines antiken Vogels, der solche Kraftakte nicht gewohnt ist. Aber sie halten fest, helfen ihr, die Balance nicht zu verlieren. Es ist bewundernswert, dieses harmonische Zusammenwirken von Muskeln und Knochen, Sehnen und Blut.
    Langsam hebt sie die Hand vor ihre Nase und schnuppert den süßen, leicht widerlichen Geruch der Tinte an ihren Fingerspitzen. Etwas aus der Vergangenheit schwimmt vorbei – unzusammenhängende Bilder von einer wilden Jagd, schäumende Brecher, die an den Strand schlagen und über dem gelbbraunen Sand auslaufen. Möwen kreischen eifersüchtig oder voller Gier. In einem zerrissenen Fischernetz voller Seetang liegt ein Pferdekopf im seichten Wasser und bleckt die Zähne. Aale schlüpfen aus den Augenhöhlen, schlängeln sich durchs offene Maul ins Freie.
    Eine Erinnerung, denkt sie, kein Traum.
    Â 
    Â 
    9.04 Uhr
    Der Schmerz pocht in ihren Schläfen, und sie rätselt über ihre eigenen Gedanken. Über Stimmen, die in ihr sprudeln. Über Sätze, die durch ihren Kopf hallen: Ich bin Minerva. Ich bin gerüstet.
    Etwas Seltsames geht hier vor.
    Ein Gedanke ist nicht bloß ein Gedanke. Ein Wort ist nicht bloß ein Wort.
    Sie denkt an einen Apfel, und da erscheint ein Apfel. Seine Schale fühlt sich leicht fettig an. Er ist prall und von der Sonne gerötet, nur um den Stiel herum grün. Seine Haut ist mit kleinen dunklen Punkten übersät.
    Sie betrachtet ihn eine Weile, bevor sie ihn zum Mund hebt und hineinbeißt. Krachend bricht ein Stück ab, er zerbirst, und ihr Mund füllt sich mit Saft.
    Sie empfindet eine urtümliche Lust dabei, die Lust, lebendiges Gewebe zu zermalmen, nährenden Lebensstoff in sich aufzunehmen.
    Warum denke ich an einen Apfel?
    Da ist kein Apfel. Ihre Hand ist leer. Das Wort »Apfel«, das sie im Sinn hat, meint Versuchung.
    Ist es das, worüber sie nachdenken sollte?
    Die Frage beschäftigt sie eine Weile, bis wieder ein stechender Schmerz durch ihre rechte Kopfhälfte fährt und ein gleißender Lichtblitz sie blendet.
    Â 
    Â 
    9.05 Uhr
    Im Vorzimmer hört sie die Dienstboten reden.
    Â»Sind Sie sicher, dass Ihre Majestät noch nicht nach mir verlangt hat?«, fragt Gribowski. Die Stimme des Sekretärs klingt beunruhigt.
    Â»Ganz sicher, Adrian Mosejewitsch.«
    Â»Aber es ist schon nach neun.«
    Â»Ihre Majestät wird ihre Gründe haben.«
    Â 
    Etwas passiert mit ihr, aber sie hat keine Zeit, darüber nachzudenken, was es sein könnte. Jede Bewegung erfordert ihre ganze Aufmerksamkeit, Entfernungen und Winkel müssen berechnet, Muskeln in Gang gesetzt und gesteuert werden. Sie überwacht jeden Atemzug.
    Ihr Herz, ein meuternder Trommler, schlägt seinen eigenen Rhythmus. Oder ist es nur die Aufregung, die es aus dem Takt bringt? Will es sie vor irgendeiner Katastrophe oder Gefahr warnen? Feuer, Überschwemmung, eine aufgebrachte Menge, die mit Sensen und Knüppeln bewaffnet zum Palast marschiert?
    Ihre Lippen sind trocken, rissig. Im Klosett steht ein blauer Porzellankrug, aber er ist zu schwer, sie kann ihn nicht hochheben. Sie steckt die Finger hinein und leckt die Tropfen ab, die daran hängen bleiben. Das Wasser ist abgestanden. Sie könnte nach dem Mädchen klingeln, das draußen bei den anderen Dienstboten wartet.
    Warum gibt es hier keine Glocke?
    Die Kopfschmerzen sind nicht mehr so schlimm wie vorher, aber es ist jetzt, als wäre ihre Schädeldecke mit einer Axt gespalten, als läge ihr Gehirn schutzlos und verletzlich offen zutage. Hat sich Jupiter so gefühlt, als er Minerva zur Welt
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher