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Die Zarin der Nacht

Die Zarin der Nacht

Titel: Die Zarin der Nacht
Autoren: Eva Stachniak
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langgezogene Formen träge durch ihr Sichtfeld. Sie schimmern in dem bleichen Licht der Morgensonne, die zu dem Fensterchen hoch oben in der Wand hereinscheint. Manche sind wie Nebel, andere ganz durchsichtig. Wenn sie versucht, sie genauer zu betrachten, sinken sie zu Boden.
    Ihr ganzer Körper ist voller unerklärlicher Wunder.
    Alles bewegt sich im selben Takt, geeint durch einen gemeinsamen Zweck. Das Herz, das Blut pumpt. Der Speichel, der die Speiseröhre seidig glatt macht. In ihrem Mund fühlt sie etwas Weiches wie Seide oder Watte. Oder wie ein Wollknäuel, mit dem die Katzen so gern spielen. Sie hört ihren Atem kommen und gehen. Ihr Körper ist ein Universum für sich, lauter geregelte Muster, die dennoch geheimnisvoll und undurchschaubar sind.
    Â 
    Denk nur an das, was wichtig ist.
    Â 
    Denk an den Trost, der in Büchern verborgen ist. Die Gewissheit einfacher Sätze, die unwiderleglich wahr sind: Was demselben gleich ist, ist auch einander gleich.
    Denk an die Sterne, die nicht einfach nur zwinkernde Lichtpunkte sind, sondern Teile einer riesigen Welt dort draußen.
Diese Welt scheint kompliziert und vollkommen unverständlich zu sein, und doch wird sie von den Regeln der Vernunft regiert und folgt ihrer inneren Ordnung.
    Denke daran, was deine Gouvernante dich gelehrt hat: So wirr und traurig die Geschehnisse des Tages auch gewesen sein mögen, der Große Wagen ist immer da. Und der Mond steht da in seiner vorausberechneten Gestalt, als Neumond, als Sichel, als Halbkreis oder als runde Scheibe. Der Himmel mag eine Zeitlang von Wolken verhangen sein, doch das ändert nichts an der ewigen Ordnung des Universums: Hinter diesem Schleier folgen der Mond und die Planeten ihren genau bestimmten Bahnen, die wir berechnen und vorhersagen können.
    Kometen kehren wieder.
    Irgendwann zeigen sich die Gesetzmäßigkeiten, die ihrem Lauf zugrunde liegen.
    Manchmal reicht ein Menschenleben nicht aus, sie zu erforschen. Manchmal zeigen sie sich erst nach vielen Generationen. Wir, die wir jetzt leben, können diese Gestirne nicht sehen, und doch sind sie da und warten nur darauf, entdeckt zu werden.
    Â 
    Â 
    9.12 Uhr
    Der flinke Achilles wird in einem Wettrennen mit einer Schildkröte, die einen Vorsprung vor ihm hat, niemals gewinnen können, denn in der Zeit, die er braucht, um zu dem Punkt zu gelangen, an dem die Schildkröte gestartet ist, wird sie eine gewisse Strecke zurücklegen und so immer einen Vorsprung, mag er auch noch so klein sein, behalten.
    Â 
    Ad infinitum.
    Â 
    Wieder ein kluger Gedanke. Sie will sich eine Weile damit beschäftigen.
    Alles ist eins. Bewegung ist eine Illusion.
    Wenn jeder Moment in immer kleinere Zeitabschnitte unterteilt werden kann, dann ist sie wie Achilles. Sie ist geborgen in einer kleinen Zeitblase. Sie muss sich nur davor hüten, sich vorwärtszubewegen. Ist das Unsterblichkeit? Diese unzähligen kleinen Zeitabschnitte, die sie vom Ende trennen?
    Sosehr sie sich auch anstrengt, sie findet nicht, was an dem Gedanken falsch ist. Es freut sie unsäglich, dass er so unangreifbar ist.
    Dieser Moment ist alles, was ich habe, denkt sie. Und ich habe es immer verstanden, das zu nutzen, was ich habe.
    *
    Â»Du bist hässlich, Sophie«, sagt eine Stimme aus ferner Zeit. Der Bruder, der sie von ihren Platz im Herzen ihrer Mutter verdrängt hat, liegt im Bett. Sein dünner Körper zeichnet sich als flache Erhebung unter der mit Satin überzogenen Daunendecke ab.
    Sie ist erst sieben. Ihre Hände und ihre Kopfhaut sind krätzig, und sie muss ein Korsett tragen, weil ihre Knochen krumm wachsen. »Sie ist bucklig«, hört sie die Erwachsenen manchmal mitleidig flüstern.
    Der Sommer ist zu Ende, und die roten Flecken auf ihrer Haut kommen wieder. Wenn sie verschorfen und abblättern, sind ihre Wangen, ihre Arme, ihre Kopfhaut rau und schuppig. Keine Salbe, kein Öl hilft dagegen. Sie muss es aushalten bis zum nächsten Sommer. Dann wird sie, von einem Paravent vor neugierigen Blicken geschützt, nackt auf einer Decke in der Sonne liegen, bis nach ein paar Tagen die roten Flecken verblassen und verschwinden und ihre Haut wieder schön glatt wird.
    Â»Du bist hässlich, Sophie.«
    Die Augen ihres Bruders funkeln boshaft. Wilhelm glaubt, er habe sie endgültig besiegt. Ihr kränklicher Bruder, um den
Maman ständig so ängstlich besorgt ist, den sie verzärtelt und dem sie
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