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Die Zarin der Nacht

Die Zarin der Nacht

Titel: Die Zarin der Nacht
Autoren: Eva Stachniak
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auf einen der Papierstreifen, der dicht beschrieben ist. »Der da hat hundert Jahre lang auf mich gewartet.«
    Â»Woher weißt du das?«
    Â»Ich weiß es.«
    Das ist natürlich eine Ausflucht, keine Antwort. Wenn sie weiter nachfragte, würde er nur zornig werden oder sich auf irgendeine höhere Offenbarung berufen, die nur Eingeweihten bekannt ist. Eigentlich ist die ganze Sache nichts Außergewöhnliches. Leute tun aus Aberglauben die sonderbarsten Dinge. Viele spucken über die Schulter aus, wenn ihnen eine schwarze Katze über den Weg läuft. Sie hat von einer Frau erzählen hören, die eine ganze geweihte Kerze aufgegessen hat. Eine Kammerfrau am Hof versteckte ein Päckchen mit Knochen und Haaren drin unter dem Bett der Kaiserin.
    Â»Was machst du damit?«, fragt sie.
    Zu ihrer Überraschung gibt er ihr eine Antwort. Einige wird er aufessen, andere an einem dünnen Leinenbändchen am Körper tragen, direkt auf der Haut.
    Â»Sagst du mir, was da drauf geschrieben steht?«
    Â»Nein!« Seine Stimme klingt plötzlich ganz panisch, und er deckt schnell das Seidentüchlein wieder über die Zettel. Als ob ihr Blick den Zauber unwirksam machen könnte.
    Â 
    Boltun – nachodka dlja schpiona. Ein Schwätzer ist Gold wert für einen Spion.
    Â 
    In Russland gilt nicht nur ein eigener Kalender, sondern es gibt auch besondere Feiertage und religiöse Pflichten. »Lutheraner sind nicht an die Gebote unseres Glaubens gebunden«, sagt Monsieur Abadurow.
    Â»Aber man kann ihnen doch erklären, was es damit auf sich hat«, erwidert sie.
    Â»Jeder Pilger muss seinen eigenen Weg gehen.«
    Kaiserin Elisabeth ist nach Troize Sergijewa Lawra abgereist, wo der heilige Sergius viele Visionen hatte. In einer sah er einen großen Schwarm Vögel. Das wies voraus auf die zahlreichen Gläubigen, die sich um ihn scharen sollten.
    Â»Woher wusste er, dass das ein Zeichen war?«
    Â»Er hörte die Stimme Gottes und wurde ein großer Kirchenlehrer.«
    Â»Und was lehrte der heilige Sergius?«
    Â»Dass selbst der Menschensohn nicht auf die Welt gekommen ist, um sich bedienen zu lassen, sondern um zu dienen.«
    Sie denkt über die Geschichte des weisen Mönchs nach, der Anspruchslosigkeit und Demut predigte, ein Leben ohne Überfluss in Nahrung und Kleidung, erfüllt von Arbeit und Beten, fern von den Verlockungen des Hofs.
    Auch das ist Russland.
    Â»Das frömmste Land der Welt«, versichert ihr Lehrer. Das orthodoxe Christentum ist der Lehre Jesu näher als der römisch-katholische oder der protestantische Glaube. Er ist nicht korrumpiert von weltlichem Stolz, die Sünde der Selbstüberhebung ist ihm fern. Selbst die Zaren mussten erfahren, dass der Zorn Gottes über jeden kommt, der die Gebote der Kirche missachtet.
    Sie sagt nicht, dass ihr Papa dem widersprechen würde. »Wieso pilgert die Kaiserin zu Fuß zum Kloster? Warum fährt sie nicht in ihrer Kutsche?«, fragt sie.
    Â»Man muss den Leib kasteien, das ist Teil der Buße.«
    Â»Buße wofür?«
    Â»Das, Hoheit, kann ich Ihnen nicht sagen. Jeder sündigt auf seine eigene Weise in Gedanken, Worten und Werken.«
    Â 
    Maman ist nicht so zurückhaltend. Kaum ist die Kaiserin fort, schwillt ihr der Kamm, und sie nimmt kein Blatt mehr vor den Mund. Ihre Stimme schallt durch die dünnen Wände ihrer Wohnung. »… auf ihren fetten Knien … bittet die Jungfrau um Verzeihung für das, was sie in den Nächten mit den Wachsoldaten treibt, die sie zu sich ins Schlafzimmer bestellt.«
    Entsagung? Fasten?
    Die Kaiserin ist unersättlich. Sie ist maßlos beim Essen und Trinken und kann nicht genug kriegen von den Zärtlichkei
ten der Männer, Zärtlichkeiten, von denen ein junges Mädchen wie Sophie nichts zu wissen braucht.
    Jetzt, da die Kaiserin weg ist, schläft Maman mit dem Chevalier Bezkoy.
    Sie lachen. Sie flüstern. Sie lachen wieder.
    Papa ist weit weg.
    Die Mädchen machen einander heimlich Zeichen: Sie halten die ausgestreckten Zeigefinger neben ihre Schläfen – die Hörner, die Maman ihrem Mann aufsetzt. Sie zwinkern einander zu, wenn sie schmutziges Waschwasser aus Mamans Zimmer tragen.
    Wie die Mutter so die Tochter, hört Sophie sagen. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm.
    Sie weiß, dass man sie beobachtet.
    Unter einer Tapete mit dem Bild eines Hirschs, der von
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