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Die Zarin der Nacht

Die Zarin der Nacht

Titel: Die Zarin der Nacht
Autoren: Eva Stachniak
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Papier ausgepolstert werden.
    Seide mag kein Sonnenlicht.
    Â 
    Â»Sammel alles ein!«
    Â»Ja, Maman!«
    Aber bevor sie anfangen kann, lecken Flammen über den Boden, zerstören die Teppiche. Schlagen aus den Fenstern. Überall hängt der Geruch von Schießpulver. Eine Männerstimme beginnt ein Gebet zu sprechen, eine Frauenstimme fällt ein. Kinder schreien. Gewehre werden geladen, feuern.
    Â 
    Lauf, Katharina. Lauf, bevor es zu spät ist. Lauf, bevor sie dir deine Seele stehlen.
    Â 
    20.35 Uhr
    Ihre Lippen sind ausgetrocknet.
    Sie sehnt sich nach einfachen Dingen. Würde sich gern die Finger befeuchten, um eine Kerze zu löschen. Zusehen, wie das Licht in den Spiegeln ihres Arbeitszimmers in Zarskoje Selo tanzt. Den vollen, weichen Geschmack von dunklem Porter kosten, eiskalt, frisch aus dem Rübenkeller heraufgebracht. Mit Honig bestrichene Gurken.
    Plötzlich hat sie den Geruch eines überreifen Apfels in der Nase. Bienen umkreisen ihn, angelockt vom süßen Geruch gärenden, weichen, bräunlichen Fruchtfleischs.
    Zwei Bienen, eine neben der anderen. Immer dichter beisammen, bis sie eine einzige zu sein scheinen.
    Â 
    An deinem Ruheort, oh Herr, wo sich ausruhen alle deine Heiligen, lass ruhen dort auch die Seele deines Dieners, denn du liebst die Menschen.
    Â 
    Ihr Herz schlägt noch, Blut fließt noch durch ihren Körper. Sie kann Licht und verschwommene Gesichter sehen. Einige weinen, einige feixen triumphierend.
    Â 
    Â»Endlich werden wir wieder einen Zaren haben. Frauen haben Russland lange genug regiert.«
    Â»Unsere alte Matuschka hat sich genug amüsiert, finde ich.«
    Â»Mehr als genug.«
    Â 
    Ich schicke mein Gebet zum Herrn und will ihm meine Sorgen vortragen. Denn meine Seele ist voller Bedrängnis, und mein Leben führte mich an den Rand des Hades. Und wie Jonas will ich beten: Rette mich aus dem Verderben, oh Gott.
    Â 
    Sie wandert über ein schneebedecktes Feld. Sie muss bald eine Unterkunft finden. In der Ferne funkeln Lichter. Vielleicht ein Dorf oder ein paar Hütten. Dort wird es Menschen geben.
    Sie geht einen Schritt, aber ihr Fuß versinkt im Schnee. Dinge sind darin vergraben. Schuhe. Knochen. Ein stählerner Helm mit Straußenfedern. Ein Birkenrindenkästchen mit Federkielen. Ein Bernstein mit zwei eingeschlossenen Bienen, die sich umarmen.
    Â 
    Erlaube mir, oh barmherziger Erlöser, dass ich meine Lippen öffne und für sie bete, die nun entschlafen ist, auf dass sie Ruhe finde, oh Herr.
    Â 
    Â»Ein Mondkind« hat jemand sie einmal genannt.
    Ihre Haut war da noch glatt und strahlend, und doch zerriss Traurigkeit ihr das Herz. Wie klar sie sein können, die Bilder,
die in die Tiefe ihrer Seele abgesunken sind. Ein ertrunkenes Königreich, entstellt durch einen feuchten Film, der das Licht reflektiert, blendend und quälend zugleich.
    Mit diesen nicht endenden Händen greift sie nach den Laken, doch sie weichen zurück, und plötzlich rinnt Sand durch ihre Finger, irgendwo an einem Strand der kalten Ostsee. Die oberste Schicht ist heiß, aber als sie die Hand hineinsteckt, wird der Sand kühler.
    Das Bernsteinstück, das sie in der Hand hält, ist von seltener Schönheit. Zwei Bienen liegen darin beieinander. Ihre Leiber berühren sich. Ihre Beine sind ineinander verschlungen. Im Tod vereint. Eingeschlossen. Unzertrennlich.
    Sie besaß einmal solch einen Bernstein, erinnert sie sich. Was ist damit geschehen?
    Hat sie ihn verschenkt?
    Einem Freund?
    Ein Gesicht stellt sich ein, verschwommen, es verändert sich ständig. Blonde Locken. Ein Grübchen in einer pummeligen Wange. Eine kräftige Hand in ihrer, als sie durch lange, gewundene Flure auf die Straße läuft. Sie ist nicht allein.
    Â 
    Warenka? Bist du hier?
    Â 
    Es ist Winter. Die Pferde tragen Decken. Aus ihren Nüstern steigt Nebelatem. Die Wachen stampfen mit den Füßen auf den schneebedeckten Boden, beobachten die beiden. Sie laufen auf die Straße, vorbei an Palästen, die von Laternen beleuchtet werden, vorbei an der gefrorenen Newa, auf der Wachposten Feuer angezündet haben, um sich zu wärmen.
    Â»Komm, Katharina«, hört sie. »Ich zeige dir, wo ich früher gewohnt habe.«
    Â 
    Sie gleitet durch die Zeit, durch das endlos weite Land. Die Flüsse, die Wälder.
    Die endlosen Steppen, wo das Gras wohlriechend und süß ist.
    Sie haben die Vorhänge
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