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Die Zarin der Nacht

Die Zarin der Nacht

Titel: Die Zarin der Nacht
Autoren: Eva Stachniak
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Glücksspielhaus behält man die Hände in den Taschen.
    Wenn jeder Spieler betrügt, woher weiß man dann, wem man trauen kann?
    Â 
    Die Frau, die sich über sie beugt, trägt eine blaue Weste mit rotem Kragen. Sie wirkt schwach, und ihre runzlige Haut ist aschfarben.
    Warwara?
    Â 
    9.00 Uhr
    Â»Schnell … sagen Sie Besborodko, er soll warten … niemand verlässt den Palast ohne meine Erlaubnis.«
    Ihr Sohn Paul gibt Befehle aus. Seine Stimme klingt scharf und doch nicht völlig selbstbewusst.
    Hat Paul immer noch Angst vor ihr? Glaubt er, sie könne sich doch noch erholen? Oder ist es Alexander, den er fürchtet?
    Durch ihre halb geschlossenen Augen sieht sie die energische Gestalt ihres Enkelsohns. Er wacht an ihrem Bett. Sieht stur geradeaus. Mit dem Ausdruck einer Palastwache in Habachtstellung, die sich nicht rühren darf.
    Ihr wahrer Erbe.
    Licht fällt auf Alexander, wird von seinen polierten Knöpfen reflektiert, den goldenen Litzen seiner Epauletten. Sie erinnert sich an sein Kindergesicht, an die Grübchen im Babyspeck, das ungeduldige Gezappel.
    Â 
    Jetzt ist es Zeit, zurechtzurücken, was zurechtgerückt werden muss.
    Â 
    Der Brief ist gefaltet, versiegelt, mit einem schwarzen Band darum. Sie hat ihn selbst geschrieben, mit eigener Hand kopiert: Zu öffnen im Falle meines Todes, im kaiserlichen Kronrat.
    Â 
    Geh nicht, Alexander. Du musst hier sein, wenn der Brief geöffnet wird. Dein Vater ist ein Feigling, aber unterschätze ihn nicht.
    Â 
    9.20 Uhr
    In der entferntesten Ecke des Raums schluchzt ein Kind.
    Alexandrine!
    Wenn dieser Körper ihr noch gehorchen würde, hätte sie ihre Enkelin an ihr Bett gerufen. Ihr mit der Hand über das liebe Gesicht gestrichen. Ihre roten, feuchten Augen geküsst.
    Â 
    Weine nicht.
    Zeig niemandem, dass es wehtut. Halt sie im Glauben, dass du stark bist. Geh davon. Aufrecht und stolz. Wie eine Königin, die du hättest sein sollen.
    Lern aus dem, was geschehen ist. So wenig kann die besten Pläne zunichte machen. Dich unfreiwillig auf einen Weg bringen, den du sonst nicht gegangen wärst. Du kannst nicht alle Fehler vermeiden. Manchmal musst du verlieren können. Aber du kannst verheimlichen, wie weh es dir tut.
    Dein Schmerz ist dein Geheimnis.
    Â 
    Â»Wissen Tiere, dass sie am Leben sind?«, fragt Alexandrine jemanden leise und drängend. Ihre Schwester? Ihren Bruder? »Wissen sie, dass sie sterben müssen? Kann ein Hund einen Menschen lieben und dann plötzlich einen anderen?«
    Â 
    Einfache Fragen, und doch sind die Antworten so schwer.
    Â 
    11.20 Uhr
    Grischenka, Fürst Potjomkin, ihr taurischer Prinz, beugt sich über sie, das Gesicht von der südlichen Sonne gebräunt. Er greift mit den Armen unter ihre Achseln und zieht sie vom Bett hoch. Neben ihm sieht sie ein formloses Bündel. »Ich nehme dich mit mir, Katinka«, sagt er.
    Also bist du gar nicht tot. Sie haben mich angelogen.
    Er sagt nicht, wohin er sie mitnehmen wird, und sie fragt auch nicht. Sie ist gebrochen und versehrt. Es ist einfacher zu gehorchen.
    Â»Dein Name ist Apis«, sagt er und öffnet ihr Übergewand, hilft ihr, sich von den schweren gefältelten Stoffen, den Ketten aus goldenen und silbernen Wirkfäden, dem Panzer aus Stickerei zu befreien. Das geöffnete Bündel enthält ein sauber gefaltetes weiches Batisthemd, ein Paar Kniehosen und ein Samtjackett. Die Kleider riechen nach Asche.
    Â»Zieh sie an«, sagt er, und sie gehorcht.
    Als sie fertig ist, reicht er ihr eine gelbe Augenmaske mit schwarzen Streifen und braunem Pelzbesatz.
    Apis heißt Biene auf Latein.
    Der locker fallende Umhang, den er ihr um die Schultern wirft, hat eine Kapuze. Die Kapuze bedeckt ihren Kopf, schützt sie vor dem Nachmittagslicht. Als sie stolpert, bleibt Grischenka stehen und reicht ihr die Hand. »Halt dich an mir fest! Ich möchte nicht, dass Apis die Treppe hinunterpurzelt«, sagt er.
    Â 
    11.25 Uhr
    Sie muss geschlafen haben, denn das Zimmer, in dem sie liegt, ist verändert. Jemand hat die Vorhänge aufgezogen und das bleiche Herbstlicht hereingelassen.
    Â»Ich habe sie gesehen, Grandmaman«, flüstert das Kind.
    Du zitterst ja, Alexandrine. Was ist passiert? Hat dich jemand verletzt?
    Es ist wichtig, dass sie ihrer Enkeltochter genau zuhört. Es ist wichtig, dass sie auf jedes Wort des Kindes achtet.
    Â»Xenia ist ans Palasttor gekommen,
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