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Die Zarin der Nacht

Die Zarin der Nacht

Titel: Die Zarin der Nacht
Autoren: Eva Stachniak
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schön leicht.«
    Â»Haben Sie die Glocken gehört? Russland betet.«
    Â 
    Â»Seine Hoheit hat nach den Papieren geschickt. Es wird jetzt nicht mehr lange dauern.«
    Â 
    Jetzt kommt deine Zeit, Alexander. Nimm den Brief und geh damit zum Kronrat. Bring alles in Ordnung. Zögere nicht. Hab keine Angst.
    Â 
    Ich habe noch nie aufs falsche Pferd gesetzt.
    Â 
    14.00 Uhr
    Â»Wohin willst du, Alexander?«, fragt Paul.
    Ihr Sohn ist aus dem Nebenzimmer gekommen, einen Hühnerknochen in der Hand. Sein Kiefer mahlt. Er kaut noch an seiner Mittagsmahlzeit.
    Â»Ich bin gleich zurück, Vater.«
    Â»Du hast meine Frage nicht beantwortet.«
    Ein Dienstbote eilt mit einem Tablett herbei. Der Knochen landet darauf.
    Paul schnaubt. Er räuspert sich. Es klingt, als müsste er sich gleich übergeben. Wie jämmerlich er neben Alexander aussieht. Wie unbedeutend. Harmlos, wenn man nur blind genug ist.
Wenn man vergisst, dass es keine schlimmere Tyrannei gibt als die Tyrannei der Schwachen.
    Â»Stramm stehen, wenn ich mit dir rede, Alexander.«
    Hacken knallen, der junge, geschmeidige Körper streckt sich.
    Â»Möchtest du etwa unserer Uniform Schande machen, Alexander?«
    Â»Nein, das möchte ich nicht. Ich bitte um Verzeihung.«
    Â»Rühren.«
    Â 
    15.15 Uhr
    Â» Gospodi pomiluj . Möge Gott der Allmächtige sich unser erbarmen«, flüstert Wischka. »Uns vor allem Übel bewahren.« Ihr Kinn zeigt auf das Nebenzimmer, wo das Schicksal des Reichs sich entscheidet. In leise gezischten Gesprächen. In fassungslosem Schnaufen.
    Â»Amen«, echot Anjetschka mit erstickter Stimme und faltet die Hände.
    Sie sind schlau. Sie flüstern nur miteinander. Benutzen Worte, die immer noch in ihr Gegenteil verkehrt, geleugnet werden können, wenn es nötig ist.
    Â»Die Privatschatulle Ihrer Majestät …«, hört sie.
    Ihre Papiere werden gelesen. Geheimnisse werden enthüllt, eines nach dem anderen.
    Â 
    Du wolltest Kaiser werden, Paul? Du wolltest alles zerstören, was ich aufgebaut habe? Alles zunichte machen, was ich erreicht habe? Hast du überhaupt den Mumm für Verrat?
    Â 
    Eine Faust knallt gegen etwas Hartes. Glass splittert.
    Â»Wie konntest du!«, schäumt Paul. »Meine eigene Frau!«
    Â»Ich habe es nicht unterschrieben!«, jammert Maria Fjodorowna zu dem Geräusch von Knien, die auf den Boden schlagen. »Sie wollte, dass ich mich gegen dich wende, aber das habe ich nicht … sieh doch, es ist nicht unterschrieben!«
    Â 
    Worte ohne Bedeutung. Denn jetzt bist nicht du wichtig, Paul, sondern dein Sohn.
    Â 
    Sie wappnet sich für das, was nun wohl als Nächstes kommt. Ein Tumult. Alexanders Stimme, die alle auffordert, ruhig zu bleiben. Pauls Aufschrei, wenn ihr Testament zum Kronrat gebracht wird, um vor Zeugen eröffnet zu werden. Ihr letzter Wille. Ihr Vermächtnis.
    Â 
    â€¦ nach meinem Tod … bei klarem Verstand … ich vererbe … meinem Enkel Alexander … Zar Alexander I .
    Â 
    Kein Aufschrei. Was sie stattdessen hört, ist ersticktes Stöhnen, gefolgt von gedämpftem Geflüster. Und dann Alexander, der fleht: »Das habe ich nie gewollt, Papa. Sie hat mich gezwungen. Du weißt doch, wie sie ist. Bitte, lass es mich verbrennen! Bitte!«
    Â 
    Â»Nein!«
    Â 
    Sie, immer noch ihre Kaiserin, hat es geschafft, ihre schlaffen Muskeln zu besiegen, ihren Kopf zu heben.
    Ihr Schrei durchschneidet die Luft.
    Anjetschka greift nach ihrer Hand, bedeckt sie mit Küssen. Wischka preist Gott den Herrn für seine unendliche Güte.
    Die Tür des Nebenzimmers geht auf. Alle drängen heraus.
    Â»Ein Wunder!«
    Maria Fjodorowna schluchzt. Besborodko wischt sich die schweißnasse Stirn. Pauls Wangen beben.
    Alexanders Augen sind vor Schreck weit aufgerissen.
    Â 
    Nein!
    Â 
    Doch jetzt ist ihr Schrei nur noch ein ersticktes Keuchen, und die Worte, die ein Befehl hätten werden sollen, verwandeln sich in ein rasselndes Geräusch. Köpfe werden geschüttelt und wenden sich ab.
    Allein Anjetschka wiederholt immer aufs Neue dieselben Worte: »Majestät hat soeben meine Hand gedrückt!«
    Â 
    15.50 Uhr
    Eine ferne Erinnerung drängt an die Oberfläche. An die feuchtwarme Spucke der Zofe auf ihrem Rücken, an den penetrant sauren Geruch, ein wenig wie überreifer Käse. An die rauen, kalten Hände, die die
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