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Die weiße Hexe

Titel: Die weiße Hexe
Autoren: Ilona Maria Hilliges
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ich John zum Eheberater, der uns zur Sexberatung ins Krankenhaus schickte. Nasenspray gegen Lungenentzündung, sozusagen. Alles ging weiter wie gehabt. Zum ersten Mal wollte ich raus aus dieser Ehe, die so romantisch begonnen hatte.
    John begriff den Ernst der Lage, wurde für einige Monate wieder der Mann, den ich geliebt hatte und der sogar seine kleine Tochter versorgte. Im September 1977 kam Bobby zur Welt. „Mein Sohn“, sagte John voller Vaterstolz. Jetzt wollte er mir zeigen, daß er Geld verdienen konnte. Naja, vielleicht wollte er es mehr sich und seinem Sohn beweisen. Jedenfalls bekam ich nichts davon mit, denn er flog nach Nigeria. Um Geschäfte in Gang zu bringen, die er mit seinen Freunden nächtelang diskutiert hatte.
    Ich mußte arbeiten, wurschtelte mich mit den zwei Kindern durch und schickte Geld nach Nigeria. Dann hörte ich nichts mehr von John - er war verschwunden, als hätte ihn der afrikanische Boden verschluckt. So konnte es nicht weitergehen! Janet und Bobby verbrachten den Tag bei einer englischen Tagesmutter in einer engen Sozialwohnung mit acht anderen Kindern, drei Hunden und zwei Katzen. Das war nicht das Leben, das ich mir für meine Kinder gewünscht hatte. Schlechtes Gewissen plagte mich. Sollte ich zurück zu Muttern nach Deutschland? Mama, die großmütige Kindernärrin, liebte meine beiden Süßen aus der Ferne. Und Vater?
    Ihn reumütig um Hilfe bitten? Er hatte mir ja noch nicht mal die Ehe mit John verziehen. Schuldgefühle hier wegen der Kinder, Schuldgefühle dort wegen meines Vaters. Die Kinder gaben den Ausschlag, zerknirscht kapitulierte ich. Meine Eltern hatten mich wieder. Und ich sie!
    Während meine Mutter sich um die Kinder kümmerte, machte ich in München bescheiden Karriere als Abteilungsleiterin. Ich reichte die Scheidung ein. Das Scheidungsbegehren wurde von der Post zwischen Deutschland und Nigeria hin- und hergeschickt. Johns Adresse konnte nicht ermittelt werden. Ich war mit einem Nigerianer verheiratet; aber in Afrika war ich bis dahin noch nie gewesen. Das war 1980, im sechsten Jahr meiner Ehe. Oma und Opa hatten ihre Rolle, Janet und Bobby ihre Familie gefunden. Ich hoffte, endlich wäre Ruhe eingekehrt. Außerdem war Weihnachten.
    Meine Hoffnung sollte sich nicht erfüllen. Ein erstes Anzeichen dafür war, daß der dreijährige Bobby mit seinem ersten Fahrrad, das sein Opa ihm schon einen Tag vor Heiligabend geschenkt hatte, im Kellerflur stürzte. Er blutete aus einer Platzwunde über dem rechten Auge, und sein linker Arm war verrenkt. So saß mein kleiner Sohn mit einem Gipsarm und einem dicken Pflaster über dem Auge unter dem dritten Weihnachtsbaum seines zarten Lebens.
    Wir waren gerade bei „Stille Nacht, heilige Nacht“, als es klingelte.
    Überrascht sahen wir uns an. Da sprang Janet schon hoch und lief zur Tür. Sekunden später hörte ich sie aufgeregt kreischen: „Mama, komm schnell! Da ist ein schwarzer Weihnachtsmann!“
    Janet hätte ihren Vater auch nicht erkannt, wenn der sich keine rote Mütze mit einem weißen Bommel aufs schwarze Kraushaar gesetzt hätte. Da stand er nun, bepackt mit lauter glitzernden Paketen und einem unschuldigen Grinsen im Gesicht. Janet klammerte sich ängstlich an mir fest und starrte den schwarzen Weihnachtsmann an, der zur Bescherung zu spät gekommen war.
    „Happy Christmas, everybody. Kann ich sehen meine Sohn?“ fragte John in seinem fröhlichen Deutsch-Englisch. Obwohl mit einer Deutschen verheiratet, hatte er meine Sprache nie richtig lernen wollen; wir unterhielten uns immer auf englisch. Am Anfang hatte das einen exotischen Reiz gehabt; doch im sechsten Jahr unserer Ehe, dem Frustjahr, nervte es mich.
    Der schwarze Weihnachtsmann bekam seinen Mund nicht wieder zu. Aber er staunte nicht etwa über den zwei Meter fünfzig großen Weihnachtsbaum, den mein zur Gigantomanie neigender Vater ins Wohnzimmer geschleppt hatte, sondern über den desolaten Zustand seines einzigen Sohnes, seines Stammhalters, den zu besuchen er gekommen war. Auf englisch rief er: „Was habt ihr mit meinem Bobby gemacht?“
    Er stürzte auf das leidende Kind zu, hob es auf den Arm und drückte ihm Küsse ins verdutzte Gesicht. Ich weiß nicht, ob Bobby von dieser Art der Liebkosung Kopfschmerzen bekam und deshalb in Tränen ausbrach oder einfach nur vor Schreck, aber ich tippe auf letzteres. Der Heilige Abend war jedenfalls gelaufen. Keine stille Nacht, sondern ausführliche Erklärungen über den Hergang des Unfalls im Keller.
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