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Die weiße Hexe

Titel: Die weiße Hexe
Autoren: Ilona Maria Hilliges
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ein Land am Regenwaldgürtel des Äquators, das viermal so groß ist wie Deutschland, in dem jeder fünfte Afrikaner lebt und das dennoch -im Gegensatz etwa zum ostafrikanischen Kenia - in keinem Reisekatalog zu finden ist: Nigeria.
    14 Jahre waren vergangen, seitdem ich Abschied von Lagos genommen hatte. Als ich mit Peter im Sommer 1997 zurückkehrte, hatte ich allerdings das Gefühl, die Zeit wäre stehengeblieben.
    Afrika, oft als die Wiege der Menschheit bezeichnet, die Mutter, nach der wir alle uns sehnen und die wir aus der Ferne lieben, empfing mich mit ihrer direkten, unverfälschten Intensität. Der Strom der Menschenmenge zog Peter und mich in die Ankunftshalle des Airports hinein. Das unbeschreibliche Chaos genoß ich mit der aufgeregten Vorfreude eines Kindes, dem ein großartiges Wiedersehen bevorsteht.
    Abiola, runder und ruhiger als in meiner Erinnerung, hatte zu unserem Empfang nicht nur seine liebenswerte künftige Frau Emeta mitgebracht. Er hatte es sich auch nicht nehmen lassen, eine Frau über meinen Besuch zu informieren, bei deren Anblick ich die Tränen nicht mehr zurückhalten konnte: Mila. Wortlos fielen wir uns in die Arme. Auch Mila, eine Frau mit einem enormen Leibesumfang, die gleichzeitig Würde, Mütterlichkeit und Autorität aus-strahlte, wischte sich eine Träne weg. Dann zog sie aus der unergründlichen Tiefe ihres Wrappers, dem traditionellen afrikanischen Wickelrock, eine Kette, die sie küßte und mir um den Hals legte.
    „Jemonja hat dich nicht vergessen, sister“, sagte sie ernst. „Sie wird dafür sorgen, daß deine Reise diesmal ohne Probleme verläuft.“ Sie umarmte mich erneut. Die Rührung über dieses Willkommensgeschenk übermannte mich; ich brachte kein Wort hervor. In diesem Augenblick schloß sich der Kreis aus Abschied und Wiedersehen: An dem dünnen Lederband um meinen Hals hing der goldgefaßte, gebogene kleine Zahn eines Krokodils. So, daß meine Begleiter es nicht hören konnten, flüsterte mir Mila ins Ohr:
    „Was auch immer dir in deinem Leben zustößt - denk daran: Du hast den Teufel besiegt.“
    Mit ausgestreckten Armen schob sie mich von sich und musterte mich wie eine Mama die heimgekehrte Tochter. „Die Jahre sind dir gut bekommen!“ Verlegen zupfte ich mein Kleid zurecht: Ich wog zehn Kilo zuviel. Doch in Milas Augen waren das jene Kilo, die ich das letzte Mal zuwenig hatte.
    Jetzt nahm sie Peter in Augenschein. „Das ist dein Mann? Er ist ein bißchen dünn geraten. Du solltest ihm mehr zu essen geben,
    sister!“ Ihr lautes Lachen war so warm und herzlich, wie ich mir unsere Ankunft nur wünschen konnte.
    Peter, der Afrika nur aus meinen Erzählungen kannte, bestaunte das bunte, pralle afrikanische Leben mit großen Augen. Lagos ist eine Metropole von heute schätzungsweise zehn Millionen Einwohnern. Wer als Europäer nachts durch die Straßen fährt, möchte glauben, daß sie alle herbeigeströmt sind, um uns Tagmenschen die afrikanische Lust am Leben in der Nacht zu beweisen. Die Straße ist eine unendlich lange Bühne, auf der sich das ganze Leben abspielt. Männer sitzen vor den Häusern und palavern; Gruppen von Frauen und Kindern sind auf dem Weg zu einer Feier oder einem der zahllosen Gottesdienste welcher Religion auch immer; Straßenhändler - Männer, Frauen, Kinder -, die Tabletts in den Händen tragen oder kunstvoll auf dem Kopf balancieren, bieten Süßigkeiten, Backwaren, Früchte, Zigaretten, fertig gekochte Speisen oder
    Kolanüsse zum Kauf an; ein alter Mann schiebt in einem Karren Wasserkanister vor sich her; manchmal sieht man kleine Herden von Ziegen, die ein Junge vorantreibt; jemand traktiert einen vollbeladenen Esel mit einem Stöckchen, damit er weitergeht; Mopeds, Busse, Sammeltaxen verschaffen sich in diesem Durcheinander laut hupend Platz.
    Nichts hatte sich verändert, nur ich selbst. Ich war älter geworden und, nach inzwischen vier Kindern, runder. Aber das - Mila hatte es mir ja so nett gesagt - gilt in Afrika als schön.
    Abiola brachte uns in sein Haus in der Nähe der Universität von Benin City. Man sagt, daß die Kinder uns zeigen, wie die Zeit vergeht. Abiolas vier Mädchen waren inzwischen erwachsen, genauso wie Janet und Bobby, meine Kinder aus der Ehe mit John.
    Während der warme Regen niederprasselte und die schwülwarme Luft nach diesem aromatischen, sinnlichen Moschus duftete, saßen wir zu viert auf der regengeschützten Veranda von Abiolas Haus und drehten die Uhr zurück.
    Damals, 1972, als alles
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