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Die Weisheit der Vielen - Surowiecki, J: Weisheit der Vielen - The Wisdom of Crowds

Die Weisheit der Vielen - Surowiecki, J: Weisheit der Vielen - The Wisdom of Crowds

Titel: Die Weisheit der Vielen - Surowiecki, J: Weisheit der Vielen - The Wisdom of Crowds
Autoren: James Surowiecki
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Abstimmungsverfahren nutzen lassen, um kollektive Urteile zu aggregieren und zu erzeugen, die nicht die Meinung eines Einzelnen in der Gruppe wiedergeben, sondern sozusagen zum Ausdruck bringen, was alle Mitglieder gemeinsam denken. Es ist paradoxerweise nämlich so, dass jedes einzelne Mitglied zu möglichst unabhängigem Denken und Handeln fähig sein muss, um die Gruppe gescheit zu machen.

5
    Ich habe die Einleitung mit einem Beispiel begonnen, in dem eine Gruppe ein einfaches Problem bewältigt: das Gewicht eines Ochsen zu schätzen. Ich möchte sie mit dem Beispiel einer Gruppe beschließen, die ein unglaublich schwieriges Problem gelöst hat: nämlich ein verloren gegangenes U-Boot aufzuspüren. Es sind zwei höchst unterschiedliche Fälle, und doch geht es in beiden um das gleiche Prinzip.
    Im Mai 1968 verschwand das U-Boot Scorpion der US-Marine nach einer Routinetour während der Rückkehr zum Hafen Newport News im Nordatlantik. Die Marine kannte nur den Standort des U-Boots bei der letzten Funkmeldung. Man hatte keine Ahnung, was der Scorpion zugestoßen war, und nur eine vage Vorstellung davon, wie weit sie sich vom Ort des letzten Funkkontakts entfernt haben mochte. Infolgedessen nahm die Marine ihre Suche in einem Umkreis von 20 Seemeilen und in großer Tiefe auf. Eine hoffnungslosere Aufgabe lässt sich kaum denken. Und der einzig mögliche Weg zu ihrer Lösung wäre üblicherweise der gewesen, drei oder vier hochkarätige Fachleute mit Spezialkenntnissen über U-Boote und Meeresströmungen ausfindig zu machen, sie zu befragen, wo die Scorpion sich befinden könnte, und dann dort mit der Suche zu beginnen. Wie Sherry Sontag und Christopher Drew in ihrem Buch Blind Man’s Bluff berichten, hatte ein Marineoffizier namens John Craven da jedoch eine völlig andere Idee.
    Craven konstruierte zunächst einmal eine Reihe von Szenarien – alternative Erklärungen zu dem, was möglicherweise mit der Scorpion passiert war. Sodann trommelte er ein Team von Männern mit einem breiten Spektrum an Kenntnissen zusammen, darunter Mathematiker, U-Boot-Experten und Bergungsspezialisten. Statt sie nun aufzufordern, untereinander zu beraten und mit einer gemeinsamen Antwort aufzuwarten, bat er jeden Einzelnen um ein von diesem favorisiertes Szenario. Um die Sache interessanter zu machen, ließ er sie ihre Einschätzungen in Form von Wetten abgeben; als Preise waren Flaschen Chivas-Regal-Whisky zu gewinnen. Und so tätigten Cravens Männer denn ihre Wetten: auf die Ursache, die für die Schwierigkeiten des U-Boots gesorgt hatte, über die Geschwindigkeit und den Neigungswinkel, in denen es sich auf den Meeresgrund zubewegte, und so weiter.
    Craven war natürlich klar, dass keine dieser Einzelinformationen ihm darüber Aufschluss geben konnte, wo die Scorpion sich befand. Doch er war überzeugt, eine ziemlich genaue Vorstellung von der Position des U-Boots zu bekommen, wenn er alle einzelnen Antworten zu einem Mosaik des Untergangs der Scorpion zusammentragen würde. Und genau das hat er dann gemacht. Er holte alle Schätzungen ein und bediente sich der so genannten Bayesschen Regel, um die endgültige Position der Scorpion zu lokalisieren. (Die Bayessche Regel ist eine Formel zur Berechnung, wie eine neue Information über ein Ereignis unsere vorherigen Erwartungen hinsichtlich der Wahrscheinlichkeit des Ereignisses verändert.) Am Ende würde Craven, vereinfacht ausgedrückt, die kollektive Einschätzung der Gruppe bezüglich des Verbleibs des U-Bootes erhalten.
    Die Position, die Craven auf diese Weise ermittelte, war nicht eine Stelle, die irgendein einzelnes Mitglied des Teams angegeben hatte. Mit anderen Worten: Nicht ein einziges Mitglied der Gruppe hatte eine Vorstellung im Kopf, welche jener Vorstellung entsprach, die Craven aus den von ihnen allen eingesammelten Informationen zusammenfügte. Bei der Schlussschätzung handelte es sich um ein echt kollektives Urteil, zu dem die Gruppe in ihrer Gesamtheit gelangt war, und nicht etwa um individuelle Empfehlungen von Seiten der klügsten Gruppenangehörigen. Und es sollte sich als wirklich brillantes Urteil erweisen. Fünf Monate nach dem Verschwinden der Scorpion spürte ein Schiff der US-Navy das U-Boot auf – nur gut 75 Meter von der Stelle entfernt, wo es sich gemäß der Vermutung von Cravens Gruppe hätte befinden sollen.
    Das Erstaunliche an dieser Geschichte liegt darin, dass die Gruppe sich in diesem Fall auf praktisch keinerlei Hinweise stützen konnte,
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