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Die Weisheit der Vielen - Surowiecki, J: Weisheit der Vielen - The Wisdom of Crowds

Die Weisheit der Vielen - Surowiecki, J: Weisheit der Vielen - The Wisdom of Crowds

Titel: Die Weisheit der Vielen - Surowiecki, J: Weisheit der Vielen - The Wisdom of Crowds
Autoren: James Surowiecki
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Anschließend errechnete sie einfach den Durchschnittswert aller Schätzungen. Er unterschied sich von der tatsächlichen Temperatur nur um 0,4 Grad. Besonders viel versprechend wirkt dieser Auftakt heute nicht, da nämlich Klassenzimmertemperaturen bekanntermaßen sehr stabil sind, weshalb es kaum vorstellbar erscheint, dass solch eine Schätzung sich allzu weit vom wirklichen Wert entfernte. Überzeugender ist das Material, das sich in den Folgejahren aus landesweiten Experimenten ergab, bei denen Studenten und Soldaten sozusagen einem Sperrfeuer von Puzzles, Intelligenztests und Buchstabenspielen ausgesetzt wurden. Die Soziologin Kate H. Gordon ließ rund 200 Studenten Objekte nach ihrem Gewicht reihen. Die »Gruppenschätzung« erwies sich als zu 94 Prozent richtig und, von fünf Ausnahmen abgesehen, besser als alle individuellen Schätzungen. In einem weiteren Experiment sollten Studenten zehn Häufchen groben Schrots mit geringen Größenunterschieden betrachten, die auf einen weißen Karton geklebt waren, und der Größe nach ordnen: Hier belief die Genauigkeit der Gruppenschätzung sich auf 94,5 Prozent. Ein klassischer Beweis für Gruppenintelligenz ist das Experiment mit Gläsern voller Geleebonbons, bei dem die Gruppenschätzung der Anzahl Geleebonbons im Glas den Schätzungen individueller Mitglieder konstant hoch überlegen war. Als Jack Treynor, ein Professor für Finanzwirtschaft, das Experiment mit 850 Bohnen im Glas durchführte, betrug die Gruppenschätzung 871 Bohnen – auf einen genaueren Schätzwert kam lediglich ein einziger der 56 Seminarteilnehmer.
    Aus diesen Experimenten lässt sich zweierlei lernen. Erstens: In den meisten Gruppen sprachen die Mitglieder während des Experiments nicht miteinander oder taten sich auch nicht zusammen. Jeder machte seine individuelle Schätzung für sich allein, anschließend wurden alle addiert und ihr Mittelwert erfasst. Es war genau diese Methode, die auch Galton anwandte, und sie verspricht hervorragende Resultate. (In einem späteren Kapitel werden wir sehen, wie es in Experimenten mit Interaktionen zwischen den Gruppenmitgliedern zu veränderten Ergebnissen kommt, manchmal zum Besseren, manchmal zum Schlechteren.) Zweitens, die kollektive Schätzung wird nicht immer besser ausfallen als jede individuelle Schätzung. In vielen (vielleicht in den meisten) Fällen wird es einige wenige Personen geben, die die Gruppe übertreffen. Und das ist in einem gewissen Sinne auch gut so; weil es insbesondere in Situationen, die einen Leistungsanreiz bieten (wie zum Beispiel an der Börse), Menschen zu anhaltender Teilnahme motiviert. Diese Studien liefern allerdings keinen Beweis dafür, dass bestimmte Personen ständig besser sind als die Gruppen. Mit anderen Worten: Bei der Durchführung von zehn verschiedenen Experimenten mit Geleebonbons in einem Glas werden wahrscheinlich jedes Mal ein oder zwei Probanden das Schätzungsergebnis der Gruppe übertreffen, es werden aber nicht stets dieselben Personen sein. Bei einer Serie von zehn Experimenten wird das Ergebnis der Gruppe fast mit Sicherheit das bestmögliche sein. Das heißt, die simpelste Methode, um verlässlich gute Antworten zu erhalten, besteht darin, jedes Mal die Gruppe zu aktivieren.
    Eine ähnlich direkte, zupackende Vorgehensweise scheint auch bei der Bewältigung anderer Probleme zu funktionieren. Dies vermochte der Physiker Norman L. Johnson anhand von Computersimulationen individueller »Agenten« auf dem Weg durch ein Labyrinth aufzuzeigen. Johnson, der im US-Bundesstaat New Mexico am Los Alamos National Laboratory auf dem Gebiet Theoretische Physik tätig ist, bewegte die Frage, inwieweit Gruppen zur Lösung von Problemen in der Lage sein könnten, mit denen auf sich gestellte Einzelpersonen Mühe haben. Er entwickelte ein Labyrinth mit vielen verschiedenen, kürzeren oder längeren Routen und schickte dann einen Agenten nach dem anderen hinein. Beim ersten Durchgang wanderten sie bloß umher, so wie man in einer völlig fremden Großstadt etwa nach einem Platz zum Ausruhen suchen mag. Wann immer sie eine Gabelung erreichten – einen »Knoten«, wie Johnson sie nannte -, bogen sie willkürlich nach links oder rechts. Auf diese Weise fanden manche Agenten – die einen rein zufällig rascher, andere ebenso zufällig langsamer – einen Weg ins Freie. Anschließend sandte Johnson die Agenten wieder ins Labyrinth, erlaubte ihnen jetzt aber, die Informationen zu nutzen, die sie sich beim ersten Gang
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