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Die Weisheit der Vielen - Surowiecki, J: Weisheit der Vielen - The Wisdom of Crowds

Die Weisheit der Vielen - Surowiecki, J: Weisheit der Vielen - The Wisdom of Crowds

Titel: Die Weisheit der Vielen - Surowiecki, J: Weisheit der Vielen - The Wisdom of Crowds
Autoren: James Surowiecki
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es am Tag des Unglücks jedoch keine öffentlichen Kommentare, die sich auf Thiokol als den Alleinschuldigen konzentriert hätten. In ihren Berichten des folgenden Morgens erwähnte die New York Times zwei Gerüchte, die rasch die Runde gemacht hatten; aber keines dieser beiden Gerüchte belastete Thiokol, und die Zeitung unterstrich dieses auch deutlich: »Hinsichtlich der Unglücksursachen gibt es keinerlei Anhaltspunkte.«
    Trotzdem lag der Markt mit seiner Reaktion richtig. Wie eine vom US-Präsidenten eingesetzte Untersuchungskommission sechs Monate nach der Explosion feststellte, wurden die Dichtungsringe der seitlichen, von Thiokol hergestellten Trägerraketen, die ein Entweichen heißer Abgase verhindern sollten, aufgrund der Kälte porös, sodass sich Risse bildeten.
    (Der Physiker Richard Feynman vermochte diesen Umstand bei einer Anhörung des US-Kongresses in einer berühmt gewordenen Demonstration nachzuweisen, indem er einen der Dichtungsringe in ein Glas mit Eiswasser fallen ließ. Als er ihn wieder herausholte, war er infolge des Temperatursturzes brüchig geworden.) Bei der Challenger hatten sich die ausgetretenen Gase entzündet, die Flammen waren in den Haupttank vorgedrungen und hatten dort die verheerende Explosion ausgelöst. Thiokol wurde für den Unfall haftbar gemacht. Die übrigen Unternehmen wurden entlastet.
    Anders gesagt: Der Börsenmarkt wusste binnen einer halben Stunde nach der Shuttle-Explosion, wer die Schuld daran trug. Gewiss, es ging hier um ein Einzelereignis; insofern wäre es möglich, dass der Markt mit seiner korrekten Schuldzuweisung einfach Glück hatte. Oder das Geschäftsfeld des Unternehmens reagierte auf einen Abschwung des Raumfahrtprogramms besonders empfindlich. Vielleicht war auch das Aussetzen dieser Aktie an der Börse für die Investoren ein Hinweis gewesen, misstrauisch zu sein. All das sind wichtige Vorbehalte. Aber das Verhalten des Marktes bleibt dennoch irgendwie unheimlich, insbesondere weil der Börsenmarkt in diesem Fall rein als Waage fungierte, also ohne eine Beeinflussung durch die Faktoren – Medienspekulation, Impulshandel und »Wall Street Hype« -, die ihn zu einem eigentümlich unberechenbaren Mechanismus zur Bildung kollektiver Weisheit von Investoren machen. An diesem Tage war es so, dass Käufer und Verkäufer einfach nur intuitiv herausfinden wollten, was passiert war, und die richtige Antwort fanden.
    Wie haben sie die richtige Antwort gefunden? Diese Frage trieb Maloney und Mulherin an den Rand der Verzweiflung. Sie prüften die Unterlagen zunächst auf »Insidertrading«: Konnten vielleicht Thiokol-Manager, die über die Verantwortlichkeit ihres Unternehmens im Bilde gewesen waren, am 28. Januar Thiokol-Aktien abgestoßen haben? Mitnichten. Diese Vermutung traf ebenso wenig auf Manager der übrigen drei Firmen zu, die ja möglicherweise vom Problem mit den Dichtungsringen gehört und sich deshalb von Thiokol-Aktien getrennt haben mochten. Nichts wies darauf hin, dass irgendwer Thiokol-Aktien auf den Markt geworfen und Aktien der übrigen drei Unternehmen erworben hatte (was für Personen mit Insiderwissen ein folgerichtiges Handeln gewesen wäre). Der Sturz der Thiokol-Aktie am Unglückstag war jedenfalls nicht allein durch gewitzte Insider verursacht worden. Er kam vielmehr durch die vielen – zumeist relativ uninformierten – Investoren zustande, die sich einfach weigerten, die Aktie zu kaufen.
    Warum aber waren sie an Thiokol-Aktien nicht interessiert? Auf die Frage sind Maloney und Mulherin eine überzeugende Antwort schuldig geblieben. Sie legten sich schlussendlich auf die Annahme von Insiderinformationen als Ursache für den Wertverfall der Thiokol-Aktie fest, ohne jedoch erklären zu können, wie es dazu gekommen sein sollte. Es ist bezeichnend, dass sie sich auf ein Zitat von Maureen O’Hara, einer Wirtschaftswissenschaftlerin der Cornell University, zurückzogen: »Obwohl Märkte in der Praxis anscheinend funktionieren, ist uns nicht klar, wie sie in der Theorie funktionieren.«
    Das mag ja sein. Nun stellt sich freilich die Frage, was unter »Theorie« zu verstehen ist. Auf die Kernfakten reduziert, hat sich an jenem 28. Januar Folgendes ereignet: Eine große Menge Einzelpersonen (die wirklichen und die potenziellen Aktionäre von Thiokol und den drei anderen in diese Geschichte involvierten Unternehmen) hatten die Frage zu beantworten: »Wie viel weniger sind die vier Unternehmen nach der Explosion der Challenger jetzt
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