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Die Wanifen

Die Wanifen

Titel: Die Wanifen
Autoren: René Anour
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Augen spiegelte sich Verwirrung.
    »Ainwa?«, hauchte er und sank mit einem leisen Seufzen in den Schnee.
    Ich starrte wie gelähmt zu ihm hinüber. Es dauerte, bis ich langsam auf ihn zukroch. »Gorman«, wisperte ich.
    Mit der einen Hand stützte ich seinen Kopf, mit der anderen untersuchte ich die Wunde, in der nach wie vor der Pfeil steckte. Gormans Blick flackerte. Ein schwaches Röcheln kam ihm über die Lippen.
    »Ata«, rief ich. »Ata, bitte. Ich weiß, ich bin noch nicht so weit. Aber nur dieses eine Mal … Lass mich mit deinen Augen sehen. Hilf mir, ihn zu retten, so wie damals. Bitte!«
    Ein dunkles Grollen antwortete mir. Ich bemerkte silbernes Funkeln um mich herum. Ata hatte seine gewaltigen Schwingen schützend über uns ausgebreitet. Es wurde plötzlich warm. Der Schnee schmolz in Windeseile dahin und überall brachen bunte Frühlingsblumen aus der Erde.
    Ich blickte in Atas graue Augen. Er hob sein mächtiges Haupt und berührte meine Stirn mit der Spitze seines Schnabels. Ich schloss die Augen und spürte, wie sich eine angenehme Wärme in meinem Inneren ausbreitete. Als ich die Augen aufschlug, sah ich Gorman und auch wieder nicht. Bahnen, in denen leuchtend blaue Energie floss, zogen sich über seinen Körper. Mit einem erschrockenen Keuchen erkannte ich, wie das blaue Leuchten sich dort, wo der Pfeil steckte, in ein scheußliches Rot verwandelte und sich in Nichts auflöste. Gormans Lebensenergie schwand rasch dahin. Nur deshalb hatte ihn der Geist des Kelpis aufgegeben: Er starb.
    »Nein«, murmelte ich. »Nicht jetzt, wo ich dich wiederhab!«
    Mit einem kräftigen Ruck zog ich den Pfeil heraus und presste sofort die Hand auf die Wunde, um das Blut am Hervorsprudeln zu hindern.
    Ich bettete Gormans Kopf vorsichtig zurück auf den Boden und drückte meine Finger rasch auf ein paar der leuchtenden Knotenpunkte. Ich musste Energie aus den Bereichen abziehen, die er nicht unmittelbar zum Leben brauchte, vielleicht gab ihm das ein paar Augenblicke …
    »Ainwa …«, flüsterte Gorman und suchte meinen Blick.
    »Ja?«
    »Hab ich … hab ich geträumt?«
    Ich zwang mich zu einem Lächeln. »Ja.« Ich schluchzte. »Ja, das hast du.«
    »Was für ein dunkler Albtraum … Wo bin ich? Alles funkelt.«
    Ich nahm seine Hand und drückte sie fest. »An unserem See natürlich. Du bist eingeschlafen.«
    »Oh.« Er lächelte, bis er eine Träne auf meiner Wange sah. Er wischte sie mit seinem Zeigefinger ab.
    »Warum weinst du denn, meine Kleine?«
    Ich presste die Lippen zusammen und versuchte, das Schluchzen, das aus mir hervorbrach, wie ein Lachen wirken zu lassen. »Weil ich glücklich bin. Weißt du nicht mehr, du hast doch gesagt, wir gehen fort.«
    »Ja«, murmelte Gorman lächelnd. Sein Blick schien mit einem Mal durch mich hindurchzugehen. Ich las Verwirrung in seiner Miene. »Wieso kann ich dich so schlecht sehen?«
    »Du bist nur erschöpft«, flüsterte ich. »Du brauchst ein wenig Ruhe.«
    »Ainwa …?« Gormans Blick irrte vergeblich umher. Ich wusste nicht, ob er noch irgendetwas erkennen konnte. Panisch stellte ich fest, wie die Lichtbahnen auf seinem Körper eine nach der anderen erloschen. »Wirst du bei mir bleiben?«
    Ich schmiegte meine Wange an seine und sprach direkt in sein Ohr, damit er es hören konnte. »Bis zum Ende der Nacht. Bis zu den ersten Sonnenstrahlen.«
    Der letzte Atem entwich seinen Lippen …
    Mit geschlossenen Augen legte ich mein Ohr auf seine Brust und lauschte auf seinen Herzschlag. Auch wenn ich sie erwartet hatte, die Stille in seinem Inneren brachte mich fast um den Verstand. Ich richtete mich auf und küsste ihn vorsichtig auf die Stirn.
    Ich hielt noch immer seine Hand fest. Sie war so warm, ich wollte sie nicht loslassen …
    Gorman war tot … erloschen. Und ich hatte ihn umgebracht. Ich … ich hatte ihn getötet, nachdem er mich den Klauen des Kelpis entrissen hatte. Es war mein Schicksal gewesen, die Erlkönigin zu werden. Ich sollte hier liegen und nicht Gorman und nicht Kauket … und Rainelf, Rainelf … der wahrscheinlich unten auf der Wiese im Schnee lag und mit leblosen Augen in den Himmel starrte.
    Ich sollte hier liegen! Ich sollte hier liegen! Ich würde hier liegen …
    »Wartet noch ein bisschen auf mich, meine Freunde«, wisperte ich. Ich beugte mich ganz nah über Gormans Gesicht. »Wart auf mich.«
    Ata stieß einen leisen Klagelaut aus.
    »Es tut mir leid.«
    Ich hob den Pfeil auf, meinen letzten Pfeil. Die Spitze, die Gormans
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