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Die Wanifen

Die Wanifen

Titel: Die Wanifen
Autoren: René Anour
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sie mir nie wieder wegnehmen«, brüllte Gorman. »Wir gehören zusammen, Ainwa!«
    Gorman rauschte auf mich zu. Verzweifelt schoss ich einen Pfeil auf ihn ab, doch er fuhr widerstandslos durch den schwarzen Nebel, in den sich Gorman verwandelt hatte.
    Nichts mehr zwischen uns – keine Geister, kein Kauket. Er würde mich einfach hinwegfegen …
    Es geschah so unglaublich schnell, trotzdem nahm ich jedes Detail wahr, als würde anstatt eines einzigen Augenblicks ein ganzes Menschenleben vergehen. Der schwarze Nebel raste auf mich zu. Hinter ihm, auf der anderen Seite des Kraftplatzes, erkannte ich den zu Tode erschrockenen Gesichtsausdruck auf Kaukets sonst so ernster Miene. Vielleicht würde er seine Chance zur Flucht bekommen, dann wäre nicht alles umsonst gewesen, dann hätte ich ihn wirklich gerettet.
    Doch dann entspannte sich seine Miene und mir war, als sähe ich ein angedeutetes Lächeln auf seinen Lippen.
    Ja … Lass mich gehen, Kauket. Ich gehe mit ihm.
    Gorman hatte mich beinahe erreicht. Seine menschlichen Umrisse formten sich aus dem Nebel, er streckte seine Hände nach mir aus …
    Ich schloss die Augen. Alles, was ich spürte, war ein leichter Luftzug auf meinem Gesicht. War das Sterben wirklich so einfach, so schmerzlos? Kaum schlimmer als das Wandeln in die Geisterwelt.
    Mit einem lauten Krachen erwachte die Welt zum Leben. Ich öffnete verwirrt die Augen. In einiger Entfernung kam die verletzte Sphincos humpelnd auf die Beine. Sie musste Gorman in letzter Sekunde zur Seite gestoßen haben.
    Ich suchte Gorman. Er stürzte sich mit glühenden Augen auf Kaukets Seelengeist. Sphincos versuchte noch, ihm auszuweichen, aber ihre Beine gaben unter ihrem Gewicht nach. Gorman schlang mit einem wilden Grinsen die Arme um ihren Kopf und riss ihn herum. Sphincos’ Genick brach mit einem furchtbaren Bersten. Ihre anmutige Gestalt plumpste reglos in den Schnee. Fassungslos beobachtete ich, wie sie zu verblassen begann. Aber … wenn der Seelengeist eines Wanifen besiegt wurde, dann … dann …
    Ich blickte in Kaukets reglose Miene. Seine Lippen zitterten. Ein einzelner Blutstropfen rann ihm aus dem Auge wie eine einsame Träne. Er kippte nach vorn und stürzte in den Schnee.
    Ich starrte zu ihm hinüber. Kein Atem. Nichts.
    Ich schrie verzweifelt auf. Mein durchdringender Schrei wurde hundertfach von den Felswänden der Höllberge zurückgeworfen.
    »Kauket«, brüllte ich mit sich überschlagender Stimme und stolperte auf ihn zu. Er war nicht tot! Er war nicht tot! Ich war doch eine Heilerin, ich konnte ihm helfen!
    Er lag mit dem Gesicht im Schnee – so konnte er nicht atmen. Ich drehte ihn rasch auf den Rücken und zuckte erschrocken zurück.
    Kaukets leblose Augen starrten durch mich hindurch. Die Blutsträne auf seiner Wange war bereits getrocknet. Ich streckte zitternd die Hand nach ihm aus, führte die Bewegung aber nicht zu Ende.
    »Kauket«, flüsterte ich von heftigen Schluchzern geschüttelt. »Kauket, wach auf!«
    Nichts.
    Ein leises Rascheln erregte meine Aufmerksamkeit. Ich wandte langsam den Blick und sah, wie der Holunder, den Kauket hatte wachsen lassen, in Windeseile verdorrte.
    »Nein«, flüsterte ich, aber meine Worte änderten nichts. Kauket war vieles für mich gewesen; ein Lehrer, ein Freund … und ja, ein Vater. Jetzt war er fort.
    Allmählich begann es zu schneien, Flocken, groß wie die Flaumfedern eines Schneehuhns, fielen auf Kaukets zerrissenen Fellmantel, den gleichen, den er getragen hatte, als ich ihm zum ersten Mal begegnet war.
    Ich hörte ein dumpfes Grollen hinter mir. Ata versuchte, mir durch seine Nähe Trost zu spenden. Aber für so etwas gab es keinen Trost. Ich schloss Kaukets Augen und erhob mich langsam. Die gigantische, silberne Gestalt hinter mir nahm ich kaum wahr.
    »Er hat versucht, dich mir wegzunehmen, Ainwa«, sagte Gorman.
    In seinen Worten lag keine Reue, nicht mal eine Rechtfertigung.
    Er stand kaum einen Steinwurf weit von mir entfernt, wahrscheinlich schon die ganze Zeit und hatte mich mit seinen Kelpiaugen beobachtet.
    Ich wischte mir mit einer entschlossenen Handbewegung die Tränen aus dem Gesicht und hob meinen Bogen auf. Als ich nach hinten griff, um einen Pfeil aus dem Köcher zu holen, musste ich lächeln.
    »Nur noch ein Pfeil übrig … für dein Herz, Gorman.«
    Gorman musterte den gespannten Eibenbogen in meinen Händen mit unbewegter Miene.
    »Meine tapfere Ainwa. Genau, wie ich es dir beigebracht habe, erinnerst du dich? Trage
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