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Die Wanifen

Die Wanifen

Titel: Die Wanifen
Autoren: René Anour
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dem Steg niederließ. Ich zögerte, setzte mich aber neben ihn. Nicht zu lange … nur nicht zu lange hierbleiben.
    »Was immer du dir für ein Leben erhoffst, wenn du fortgehst, es wird niemals eintreffen«, erklärte Alfanger ruhig.
    »Für mich ist es überall besser als hier«, erwiderte ich.
    Alfanger seufzte und berührte mit den Spitzen seiner Lederschuhe die Wasseroberfläche.
    »Erinnerst du dich noch an die alten Geschichten? Die über die Wanifen?«, fragte er.
    Ich warf ihm einen stirnrunzelnden Blick zu.
    »Die Wanifen«, fuhr Alfanger fort, »sind keine Heiler, Ainwa. In ihren Adern fließt das Blut der Ahnen. Es heißt, sie können die Stimmen der Geister hören. Manche sagen sogar, sie könnten sie rufen, wenn sie ihre Hilfe brauchen.«
    Ich starrte nachdenklich in die Fluten des Sees und versuchte, mich an die Geschichten zu erinnern, die Alfanger uns früher am großen Feuer erzählt hatte. Wieso kam er gerade jetzt mit diesen alten Märchen an?
    »Früher, vor langer Zeit, gab es auch in unserem Volk Wanifen, Ainwa. Immer einen, manchmal auch zwei, wenn es eine Zwillingsgeburt war.
    Wenn ihre Kräfte erwachten, stiegen sie hinauf ins Gebirge, um die Urukus zu suchen. Die Urukus sind die Schutzgeister unseres Volks. Scheue Geschöpfe, die sich nur den Wanifen der Ata zeigen. In meinem Leben habe ich keinen von ihnen zu Gesicht bekommen. Mein Vorgänger erzählte mir von ihnen …«
    Alfanger berührte mich an der Schulter.
    »Was siehst du dort unten?«, fragte er und deutete auf das Wasser, in das ich nun schon eine Weile hineinstarrte. Der See hielt meinen Blick stundenlang gefangen. Das Licht, die Tiefe, eine Forelle, die mit unglaublicher Geschwindigkeit nach einer Mücke sprang … Jetzt sah ich nur mein Gesicht, blass, umrahmt von widerspenstigem, schwarzem Haar, das mir fast bis zur Hüfte reichte. Früher hatte ich meine Gesichtszüge als weich empfunden, heute war ich überrascht, wie hart meine zusammengepressten Lippen und die hervorstehenden Wangenknochen es wirken ließen.
    »Ich sehe nichts«, murmelte ich und hob den Blick.
    »Aber früher, als du noch ein Mädchen warst …«
    »Was soll das?«, fragte ich. »Du hast mir gesagt, ich soll die Hirngespinste vergessen! Ich soll nur glauben, was das Auge sehen und die Hand berühren kann, erinnerst du dich? Ich hab’s nicht vergessen!«
    Meine Lippen bebten vor Zorn. Wie konnte er es wagen, damit anzufangen? Wieso holte er die Dinge hoch, die er mir jahrelang gründlich ausgetrieben hatte, sodass ich nicht einmal an sie denken wollte?
    Alfanger schüttelte müde den Kopf. Seine längst ergrauten Haare umrahmten sein zerfurchtes Gesicht, aber die Augen funkelten so hell wie die Wasser des Weytaflusses.
    »Wenn ich damals schon begriffen hätte, was für ein Fehler das war.« Er stieß ein tiefes Seufzen aus und schloss für einen Moment die Augen.
    »Ich habe dich beobachtet, Ainwa, viel genauer, als du weißt, von dem Tag, an dem dein Vater durch das Eis des Sees brach, bis zu diesem Tag, an dem sich dein achtzehnter Sommer seinem Ende neigt. Das Blut der Ahnen ist stärker in dir als in allen, die ich in meinen vielen Jahren gesehen habe. Heute Nacht, Ainwa, wenn der Geist der Ahnen den Mond rot färbt, wird es zum Leben erwachen.«
    »Wovon genau sprechen wir hier?«, fragte ich.
    »Es bedeutet, du musst das Dorf verlassen, sobald heute die Sonne untergeht. Du wirst dem Lauf des Weyta folgen, durch den Wald, hoch in die Berge, in ihr Reich. Die Urukus werden dich in ihre Geheimnisse einweihen … damit du eine Wanife wirst.«
    Ich starrte Alfanger entgeistert an, dann lachte ich laut auf.
    »Willst du mir ernsthaft erzählen, ich soll nachts in den Wald, um nach Berggeistern zu suchen?«
    Ich hatte Alfanger bisher niemals respektlos behandelt. Erst sein seltsames Verhalten in den vergangenen Wochen hatte mich dazu gebracht. All die Jahre war er für mich die Stimme der Vernunft gewesen, mein Lehrer. War es möglich, dass das Alter ihm die Sinne verwirrte?
    »Ich meine es ernst, Ainwa«, meinte Alfanger händeringend.
    »Ach, und woher weißt du, dass die Berggeister überhaupt existieren?«, fragte ich.
    »Ich weiß es einfach«, behauptete Alfanger in einem Ton, der mir klarmachte, dass er es nicht besser erklären konnte.
    »Ich verstehe dich nicht«, meinte ich kopfschüttelnd. »Immer hast du mir eingeschärft, mich auf meinen Verstand zu verlassen. Jetzt, wo ich fortgehe, behauptest du, mein Blut würde zum Leben erwachen,
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