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Die Wanifen

Die Wanifen

Titel: Die Wanifen
Autoren: René Anour
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starrte ihn fassungslos an und schluckte schwer an einem dicken Kloß im Hals.
    »Aber was ist mit Gorman? Er …«
    »… darf nichts erfahren, Ainwa. Gorman würde dich nicht gehen lassen, das weißt du!«
    »Ich muss es ihm sagen«, flüsterte ich. »Wenn ich einfach gehe, wird er niemals wissen, was mit mir passiert ist … Warum ich nicht mit ihm …«
    »Ich werde es ihm erzählen«, murmelte Alfanger.
    Ich senkte den Blick. Meine Welt lag in Trümmern.
    »Es ist der einzige Weg, Ainwa, der einzige.«
     
    Ich stand am Rand des Waldes im Schatten der mächtigen Buchen und Tannen und warf einen letzten Blick auf die Pfahlhütten Ataheims zurück. Dort lag alles, was ich mein Leben lang gekannt hatte. Wären die Dinge etwas anders gelaufen, hätte es auch ein guter Ort zum Leben sein können. Ein Ort der Sicherheit in einer Gegend, die jedes Jahr von den Herden der gewaltigen Wisente durchwandert wurde. Wir lebten von der Jagd auf die Wildrinder, vom Fischfang und von den Pilzen und Beeren, die der Urwald uns schenkte, wenn  die Geister uns wohlgesonnen waren. Ich hatte versucht, den Großteil meiner Jugend nicht über die Welt des Unsichtbaren nachzudenken. Man hatte mir auf schmerzliche Weise beigebracht, dass es wichtiger war, sich auf die Dinge zu konzentrieren, die das Auge sehen und die Hand berühren konnte.
    Ich schnaubte verächtlich. Das Schicksal hatte manchmal einen makabren Sinn für Humor. Ich hatte mich vom Mystischen abgekehrt, um jetzt wahrscheinlich von einem blutrünstigen Waldgeist zu Tode gehetzt zu werden.
    Wie sehr ich mir wünschte, nicht gehen zu müssen, obwohl ich mich noch vor einigen Stunden darauf gefreut hatte. Wenn wenigstens Gorman an meiner Seite wäre. Wenn er bei mir war, hatte ich nie Angst. Es war, als würde jedes Geräusch, jedes noch so gefährliche Tier in Gormans Nähe seine Bedrohlichkeit verlieren.
    Nein, es war gut, dass er nicht bei mir war. Niemand durfte in meiner Nähe sein, Gorman am allerwenigsten – wenn es stimmte, was Alfanger sagte.
    Ich wandte mich ab und marschierte los. Schon nach wenigen Schritten umfing mich das Dämmerlicht des Urwaldes und seine unheimlichen Geräusche.
    »In der Dunkelheit, wenn dein Blut erwacht, wird der Kelpi dich jagen.«
    Alfangers Worte wollten und wollten mir nicht aus dem Kopf.
    Ich fühlte ein Kribbeln in meinen Gliedern, eine seltsame Aufregung, die mich immer ergriff, wenn ich den Wald durchstreifte, um nach den Blüten des Knabenkrauts oder den Wurzeln des Baldrians zu suchen.
    Ein paar trockene Zweige knackten unter meinen Füßen und scheuchten einen großen Auerhahn auf, der mit einem peitschenartigen Geräusch aufflog.
    Ich zuckte zusammen und blickte dem schwarzen Vogel hinterher, bis ihn das Dickicht verschluckte.
    Ich seufzte und entspannte mich wieder. Der Kelpi würde mich erst in der Nacht jagen, so hatte es Alfanger gesagt. Ich durfte nicht den Kopf verlieren, dafür würde es später noch reichlich Gelegenheit geben. Nur wenn ich ruhig und konzentriert blieb, würde ich …
    Irgendetwas packte mich an der Schulter und riss mich herum. Ich schrie auf.
    Der Griff um meine Schulter löste sich und lautes Lachen erschallte.
    »So schreckhaft, meine Kleine?«
    Es dauerte, bis ich die Gestalt im Schatten des Waldes erkennen konnte.
    »Gorman?«
    Gorman lächelte. Er war ein paar Jahre älter als ich und zwischen seinen Oberarmen hätte ich fast zweimal Platz gefunden. Trotzdem teilten wir ein Merkmal, das für die Ata sehr ungewöhnlich war – das dunkle Haar. Doch während meine Augen grau wie die Winternebel waren, hatten Gormans die Farbe von Haselnüssen.
    »Du hast lange gebraucht«, sagte Gorman. »Ich dachte, jemand hätte dich erwischt und zurückgehalten.«
    Wenn es etwas gab, das Gorman schwerfiel, dann war es das Sprechen. Er stotterte nicht, aber manchmal schienen die Worte seinen Mund nicht verlassen zu wollen, egal wie sehr er sich anstrengte.
    Ich zwang mich zu einem Lächeln.
    »Hör zu«, sagte ich mit zitternder Stimme. »Ich habe es mir anders überlegt. Ich komme nicht mit!«
    Ich musste überzeugend wirken, sonst würde er mir niemals glauben.
    Gorman blickte mich forschend an. Ein paar quälende Augenblicke verstrichen.
    »Wenn das wahr ist … wohin gehst du dann?«
    »Das geht dich nichts an«, erklärte ich so kühl wie möglich.
    Ich hätte ihm nicht begegnen dürfen! Von allen Menschen durchschaute Gorman meine Lügen am schnellsten.
    »Du hast Angst«, stellte er überrascht
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