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Die Wanifen

Die Wanifen

Titel: Die Wanifen
Autoren: René Anour
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ob ihm Hunger und Einsamkeit jetzt mehr zusetzten, andererseits fand ich seine bloße Gegenwart so tröstlich, dass ich ihn nicht mit Fragen bedrängen wollte.
    Eines Nachts sah ich ihn mit Alfanger am Seeufer entlangspazieren, ein seltsames Paar, zwei alte Freunde, nach so langer Zeit wieder vereint. Ich wunderte mich. Ob Rainelf ihm wohl alles erzählt hatte, was ihm in dieser langen Zeit widerfahren war?
    Was Alfanger betraf, so hatte ich noch immer nicht die Kraft gefunden, ihm die ganze Geschichte zu erzählen, die Wahrheit über die Urukus und Gormans Schicksal.
    Auf gewisse Weise war ich noch immer wütend auf ihn, wütend, dass er fast mein ganzes Leben versucht hatte, mir auszutreiben, wer ich war, auch wenn es aus besten Absichten geschehen war. Noch wütender war ich darüber, dass er Gorman verraten hatte, dass der Kelpi mein Blut wollte, was Gorman überhaupt erst auf die Idee mit dem Elchenband gebracht hatte. Auch was das anbelangte, behandelte ich Alfanger etwas ungerecht, denn ich war überzeugt, dass Gorman ihm keine Wahl gelassen hatte. Vielleicht brauchte ich einfach noch ein bisschen Zeit, um ihm zu vergeben.
    Ansonsten erfuhr niemand im Dorf Gormans wahre Geschichte. Er hatte mich vor einem Bären gerettet und war dabei gestorben … Auf gewisse Weise war das sogar näher an der Wahrheit, als es auf den ersten Blick schien. Niemand sollte ihn je als etwas anderes sehen als einen Helden, das war ich ihm schuldig.
    Der Angriff der Tráuna hatte in Ataheim so einiges verändert. Die Tatsache, dass ich die Ata gerettet hatte und zwei Mitglieder des Rats der Alten bei dem Angriff umgekommen waren, sorgte dafür, dass die Menschen sich allmählich wieder in meine Nähe trauten. Der alte Hongar erzählte herum, wie mein Trank ihm das Leben gerettet hatte, und da Alfanger sich ohnehin schonen musste, kamen immer mehr Menschen, um sich von mir behandeln zu lassen. Ich tat für sie, was ich konnte.
    Langsam senkte ich den Blick und starrte ins Wasser. Für einen zauberhaften Augenblick glaubte ich, darin ein silbernes Funkeln zu sehen.
    Abwesend strich ich über die Narben meines Elchenbands. Seit Gormans Tod war es so leblos wie früher mein Geistzeichen. Manchmal ertappte ich mich dabei, wie ich mir wünschte, dass es irgendetwas tat.
    Es war das Einzige, was mir noch von ihm geblieben war. Das Einzige von ihm, das Einzige von meinem geliebten Gorman, den ich zweimal getötet hatte. Einmal durch meine Schwäche, durch die ich zugelassen hatte, dass Gorman mich in der Nacht des Blutmonds begleitet hatte, das zweite Mal durch meine Feigheit, als ich ihm den Pfeil in die Brust gerammt hatte – sein Geschenk, von ihm angefertigt, um mich zu beschützen.
    Ich wusste nicht, ob ich ewig mit dem Gedanken weiterleben konnte, dass ich Gorman nicht genug geliebt hatte, um ihn zurückzuholen, während seine Liebe zu mir so stark gewesen war, dass nicht einmal das Blut des Kelpis ihn am Ende dazu hatte bringen können, mich zu töten. Etwas in mir war zerbrochen und ich wusste nicht, ob es je wieder heil werden würde. Mit ihm war alles gestorben, wofür ich je gelebt und gekämpft hatte. Ich fühlte mich zurückgelassen in dieser großen, leeren Welt.
    »Ainwa?«
    Ich blickte auf. Nephtys winkte mir vom Ufer aus zu. In den vergangenen Tagen waren die dunklen Ringe um ihre Augen allmählich verschwunden und ich hatte sie sogar schon ein paar Mal lachen gehört. Ich winkte zurück.
    Sie war gerade mit einer Gruppe Jäger angekommen, die einen erlegten Rothirsch ins Dorf trugen. Ich bemerkte die bewundernden Blicke, die ihr die Männer zuwarfen, und lächelte. Sie würde zurechtkommen, auch ohne mich.
     
    Es war kurz vor Morgengrauen, als ich mich aus dem Dorf schlich. Das Einzige, was ich bei mir trug, war mein Stab, aus dessen Spitze zarte Eibentriebe wuchsen. Den Bogen hatte ich in Alfangers Hütte gelassen. Ich würde ihn nicht brauchen, da wo ich hinging.
    Am Waldrand angekommen, warf ich noch einen letzten Blick zurück auf das Dorf.
    Die Hütten Ataheims grenzten sich scharf in der kühlen Morgenluft ab. Für einen winzigen Moment sah ich dort unten eine breitschultrige Gestalt stehen. Genau an der Stelle, an der der Steg das Ufer verließ. Ich blinzelte und wartete darauf, dass die Gestalt verblasste …
    »Wohin des Wegs, Wanife der Ata?«
    Ich musste grinsen. Eigentlich hatte ich fast damit gerechnet. »Dir entgeht wohl gar nichts?«, murmelte ich, als Rainelf vom Ast einer alten Buche sprang. In seinem
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