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Die Wahrheit des Alligators

Die Wahrheit des Alligators

Titel: Die Wahrheit des Alligators
Autoren: Massimo Carlotto
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ich, »die andere Hälfte geben wir Mariette Carraro. Ihr habt ihn ohne Grund fast zu Tode geprügelt, und er hat ein Recht auf eine Entschädigung.«
    »Einverstanden«, nickte Alfredo. Er nahm seine Schaufel und steckte vor unseren Augen peinlich genau die Umrisse seines Grabes ab. Dann fing er an zu graben.
    Nach einer Weile hielt er inne und fragte seinen Bruder, der reglos stehengeblieben war: »Warum gräbst du nicht?«
    »Das paßt mir nicht, Alfredo. Auch sterben paßt mir nicht. Bist du sicher, daß wir mit den beiden hier nicht verhandeln können?« Er deutete auf uns.
    »Grab, Ugo. Grab, und red keinen Schwachsinn.« Über zwei Stunden lang begleitete nur das scharrende Geräusch der Schaufeln ihr schnelles, trauriges Getuschel in tiefstem Neapolitanisch, wovon ich kein Wort verstand. Es schien mir jedoch, als würden sie sich die schönen alten Zeiten in Erinnerung rufen. Benjamino und ich saßen auf einem Baumstumpf, rauchten schweigend und behielten sie im Auge, warfen nur ab und zu einen Blick auf die Uhr. »Wir sind fertig«, sagte Alfredo. Er ging zu seinem Bruder und umarmte ihn.
    »Addio Ugo«, flüsterte er gerührt. Der Bruder begann leise zu weinen.
    »Stirb als Mann«, ermahnte ihn der andere und riß sich von ihm los.
    Benjamino gab eine kurze Salve ab, die durch den Schalldämpfer fast unhörbar war. Der Aufprall riß Ugo nach hinten und er fiel mit ausgebreiteten Armen zu Boden. Rossini ging ganz nah zu ihm hin und gab ihm den Gnadenschuß – genau durchs Herz.
    »Wartet.« Alfredo nahm den Bruder und legte ihn vorsichtig in sein Grab. Dann, zu mir gewandt: »Ich möchte, daß Sie mich hinrichten, Herr Alligator.«
    »Warum?« fragte ich überrascht.
    »Ich möchte von jemand getötet werden, den ich kenne, so kann ich ihn in alle Ewigkeit verfluchen.«
    »Mach schon, Marco«, drängte mich Benjamino und richtete den Strahl der Taschenlampe auf die Brust des Camorristen. Ich starrte auf diesen leuchtenden Punkt. Das Maschinengewehr wurde mir plötzlich zu schwer, und ich ließ es zu Boden fallen.
    »Ich schaff das nicht«, murmelte ich, zu beiden gewandt. »So war das aber nicht abgemacht«, schimpfte der alte Rossini.
    »Das ist kein männliches Betragen«, pflichtete der Todgeweihte ihm bei.
    Meine Hände zitterten, und ich hatte Schwierigkeiten, mir eine Zigarette anzuzünden.
    »Ich hab so meine Spielregeln«, erklärte ich Rossini. »Ihr habt Eure, und die ›Regulären‹ wieder andere. Ich habe diesen Beruf gewählt, weil er mir erlaubt, auf keiner der beiden Seiten zu stehen. Manchmal passiert es, daß ich Zugeständnisse machen und mich bestimmten Regeln anpassen muß, aber Töten würde mein ganzes Leben durcheinanderbringen, und ich bin zu alt, um noch ein anderer werden zu können. Es tut mir leid, aber ich kann das nicht machen.«
    »Mein Bruder liegt erschossen in der Grube, und der da fängt an zu philosophieren«, schrie Caruso, zu meinem Freund gewandt.
    »Ganz ruhig, Alfredo«, brachte Benjamino ihn zum Schweigen. »Das sind Dinge, die dich nichts angehen.«
    »Das geht mich nichts an?« schrie er außer sich. »Und wer soll denn hier eine Bleiladung abkriegen?«
    »Sei still!« gebot ihm der alte Rossini, und dann, zu mir gewandt: »Marco, diesmal versteh ich dich wirklich nicht. Deinetwegen befinden wir uns in dieser Situation, und wir haben keinen anderen Ausweg als diesen. Wenn sie uns erwischt hätten, dann hätten sie uns nicht nur auf der Stelle kaltgemacht, sie hätten außerdem auch noch ihren Spaß dabei gehabt.«
    »Ich weiß, du hast in jeder Hinsicht recht, aber ich schieße nicht. Weder auf ihn noch auf sonst wen.«
    »Das hätt ich mir denken können, ich kenn dich ja«, maulte er in resigniertem Tonfall. Dann, zu Alfredo gewandt: »Ich heiße Benjamino Rossini. Jetzt kennst du mich und kannst in der Hölle mich an seiner Stelle verfluchen.«
    Der Camorrist lachte bitter. »Benjamino. Was für ein Schwulenname … und was für ein ehrloses Schicksal: Die Brüder Caruso, erledigt von einem Schwulen und einem Muttersöhnchen. mach schon, ich bin bereit.«
    Nach den ersten Schüssen fiel er auf die Knie. Die zweite Salve traf ihn am Kopf.
    Rossini nahm ihn bei den Armen und ich an den Füßen. Plötzlich ließ er los und fing an zu fluchen. »Was ist denn los?« fragte ich.
    »Ich hab ihm den Schädel in der Mitte durchgenietet, sein Hirn läuft auf allen Seiten raus, und ein Stück davon ist mir auf die Schuhspitze getropft.«
    »Dann wisch sie dir ab und hör
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