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Schlaflos in Seoul

Titel: Schlaflos in Seoul
Autoren: Vera Hohleiter
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|9| Warum nicht Korea?
    Korea? Warum eigentlich Korea? – Was wusste ich schon von Korea? Nichts prädestinierte mich dafür, nach Korea zu gehen. Ich
     kann nicht behaupten, dass Korea mein Kindheitstraum war – und ehrlich gesagt, kenne ich auch niemanden, der das von sich
     behauptet. Kinder, die wie ich früh mit Fernweh infiziert wurden, träumen vielleicht davon, später in Paris oder in New York
     zu leben, auf einem Schiff die Welt zu umrunden oder in Afrika Wildtiere zu beobachten. Manche träumen vielleicht sogar von
     den Reisfeldern Japans und den glitzernden Häfen von Hongkong und Shanghai, aber Korea kommt in diesen Phantasien nicht vor.
    Über Korea wusste ich kaum mehr als jeder durchschnittliche Deutsche, der regelmäßig fernsieht und Zeitung liest. Beispielsweise
     dass die Sommerolympiade 1988 – die ersten Olympischen Spiele, an die ich mich als Kind erinnern konnte – in Seoul stattgefunden
     hatte. Aus meiner Schule kannte ich zwei koreanische Mädchen, die von deutschen Eltern adoptiert worden waren. Mir war bewusst,
     dass Taekwondo aus Korea kam, ebenso wie mein Laptop und mein Handy der Marke Samsung. Die Marken Hyundai, LG und Daewoo waren
     mir ein Begriff und ich wusste Bescheid über die Teilung des Landes und über die Bedrohung, die von Nordkoreas Atomwaffen
     ausging.
    Wenn mir vor fünf Jahren jemand gesagt hätte, dass ich später in Korea leben würde, hätte ich es vermutlich nicht geglaubt.
     Ich hätte nicht geglaubt, dass ich wegen eines schönen, |10| aber launenhaften jungen Koreaners meinen Job, meine Wohnung und meine Freunde in Berlin zurücklassen würde. Ich hätte nicht
     geglaubt, dass ich jemals die koreanische Sprache gut genug lernen würde, um mich zu unterhalten, geschweige denn in einer
     Fernsehshow aufzutreten. Ich hätte auch nicht geglaubt, dass es ein Land gibt, das einen trotz intensiver Sprach- und Kulturstudien
     täglich verblüfft und einem manchmal das Gefühl gibt, es nie wirklich zu verstehen.
    Ausländer, die in Korea leben, sind merkwürdig gestrandete Wesen, die einem bei erstbester Gelegenheit ihre Lebensgeschichte
     aufdrängen, die sich viel beschweren, die sich endlos über Kleinigkeiten aufregen, die oft depressiv werden – kurz: Ausländer
     in Korea sind anstrengende Menschen, die sich in einer heimlichen Komplizenschaft an jeden klammern, der ihre Muttersprache
     oder wenigstens Englisch spricht. Zu meiner eigenen Schande muss ich gestehen, dass ich mich in keinerlei Hinsicht von den
     anderen Ausländern unterscheide, dass ich genauso weinerlich, kleinlich und überheblich bin wie alle anderen. Als höfliche
     und wohlerzogene Europäerin trete ich trotz heftiger Bemühungen, alles richtig zu machen, häufig in Fettnäpfchen und verirre
     mich immer noch genauso häufig in dem Gewirr koreanischer Regeln und Tabus wie in dem Straßengewirr Seouls.
    Den ersten bewussten Kontakt mit Korea hatte ich irgendwann im Frühjahr 2004, als ich den Großteil meiner Zeit in der Berliner
     Staatsbibliothek am Potsdamer Platz verbrachte und dort meine Diplomarbeit über avantgardistische Lyrik aus dem Ersten Weltkrieg
     schrieb. In der Mittagspause saß ich an einem der großen Fenster im Erdgeschoss und aß meinen mitgebrachten Obstsalat. Eine
     junge Asiatin kam auf mich zu und fragte mich in einem etwas gestelzten Deutsch, ob ich ihr ein paar Fragen beantworten könne.
     Als ich zustimmte, drückte sie mir einen Fragebogen in die Hand und verschwand wieder. Das Mädchen war Koreanerin und schrieb
     eine Arbeit über |11| das Image Koreas im Ausland. Das Papier bestand aus Fragen wie »Glauben Sie, dass Korea ein hochentwickeltes Land ist?«, »Glauben
     Sie, dass Korea ein Land mit einer reichen Kultur ist?«, »Können Sie sich vorstellen, einmal nach Korea zu reisen?«
    Ich konnte mir so ziemlich alles vorstellen. Ich war vierundzwanzig Jahre alt, neugierig, enthusiastisch und ziemlich abenteuerlustig.
     In den vergangenen fünf Jahren hatte ich in Berlin, New York und Paris gelebt, war nach Japan und Armenien gereist und hatte
     eine Weile in Kamerun gearbeitet. Aus einer Laune heraus hatte ich angefangen, eine Reise mit der Transsibirischen Eisenbahn
     von Russland über die Mongolei nach China zu planen – weil ich meine Schwester besuchen wollte, die für ein Jahr in China
     studierte, und weil ich Blaise Cendrars’ Gedicht über die Transsibirische Eisenbahn mochte. Es gab damals wohl keinen Ort
     auf der Welt, an den ich nicht
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