Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Vision

Die Vision

Titel: Die Vision
Autoren: Judith Merkle-Riley
Vom Netzwerk:
größte Teil – größer als sein Kopf, falls das möglich war.
    »Hört sich fast an wie sein Vater in dem Alter«, meinte der alte Mann.
    »Komm, komm«, beruhigte ihn Margaret, während sie ihn wieder windelte und zu beruhigen versuchte. Als das Gebrüll nachließ und zum Schluckauf wurde, sagte der alte Mann:
    »Sieht mir nach einem starken Esser aus. Ist er ein starker Esser, Madame?«
    »Ja, Mylord.«
    »Sein Vater hat zwei Ammen gebraucht.« Darauf folgte ein langes Schweigen. »Seine Mutter hat einen Monat das Bett gehütet.« Und er musterte die beiden erneut.
    »Man hat mir erzählt, daß Ihr am Tag nach der Geburt aufs Pferd gestiegen und sieben Tage durchgeritten seid, ohne daß Eure Milch auch nur einmal versiegt wäre.«
    »Ja, Mylord.«
    »Ich habe gut gewählt. Ihr seid eine starke Frau.« Margaret spürte, wie die Wut in ihr hochstieg. Wenn das ein Kompliment sein soll, du alter Geizhals, dann kannst du es dir an den Hut stecken, dachte sie.
    »Man hat mir erzählt, daß Ihr um die Freigabe meines Sohnes gewürfelt und Euer Leben in die Waagschale geworfen habt.« Sie sah, wie sich Gregorys Brauen vor Schreck wölbten. Und dabei hatte sie so gehofft, sie könnte das Würfelspiel auf ewig vor ihm geheimhalten, denn es war ihr peinlich. Lieber Gott, was für ein taktloser, alter Mann. Er blickte sie jählings aus der Nähe an und knurrte: »Wart Ihr nicht ganz bei Trost, Madame?«
    »Es waren falsche Würfel, Mylord.«
    »Falsche Würfel? Hugo, davon hast du mir nichts –« platzte der alte Mann heraus. »Falsch! HA! Falsch, bei Gott!« Vor unterdrückter Freude lief er ganz rot an, und seine Augen erfaßten Margaret, als sähe er sie zum ersten Mal in einem ganz anderen Licht. »Ihr seid wirklich eine de Vilers! Herein, meine Herren, immer herein, sage ich, und ehrt die Frau, die den Teufel höchstpersönlich mit einem Satz falscher Würfel hereingelegt hat!« Und als sie genau zu diesem Zweck ins Zimmer strömten, wurde Margaret dunkelrot, so peinlich war ihr die Situation.
    Und natürlich mußten sie zum Fest bleiben, auch wenn sie auf dem Weg nach Dover waren, um sich erneut nach Frankreich einzuschiffen. Als Margaret Anweisung gab, noch mehr Gedecke aufzulegen, hörte sie männliche Stimmen, die Gregory zur Geburt seines Sohnes gratulierten, und ein Geknurr: »Nicht zu fassen! Hält einen Gefangenen von Rang ohne Lösegeldforderung fest! Unehrenhaft! Unerhört! Und man munkelt, auch noch ein Teufelsanbeter!« Und über allem erhob sich die Stimme des alten Sieur de Vilers:
    »Verdammt noch mal. Siehst du aber DÜNN aus! Ich habe am GALGEN schon SKELETTE mit mehr Fleisch auf den Rippen hängen sehen! Du kannst nicht wieder ins Feld ziehen, wenn du wie der LEIBHAFTIGE Tod aussiehst!«
    »– und John, schick die Köchin in die Garküche um die Ecke, sie soll einfach alles aufkaufen, was sie haben. Es ist mir gleichgültig, ob ich damit ihre Berufsehre kränke. Diese Leute hier können zuschlagen. Ehrenwort, wir haben einfach nicht genug. Oh! Wein! Und Tische! Brauchen wir noch einen? Wohin bloß damit?« Und schon lief Margaret sorgenvoll davon, sie mußte sich darum kümmern, ob man in der Diele mit dem Auflegen der neuen Gedecke zurechtkam.
    Beim ersten Gang, einer gebundenen Suppe, fielen den Nachbarn die modischen französischen Tischmanieren auf, die sich Margaret in der Fremde zugelegt hatte. Auch ihr Mann wirkte für einen Engländer verdächtig geschickt bei Tisch, aber war es andererseits nicht auch wohlerzogen, wie er ihr den Becher und den besten Bissen von jedem Gericht anbot? Und sah sie dabei nicht glücklich aus? Und zugegeben, die Gesellschaft war äußerst vornehm und obendrein witzig. Niemand hatte ein Wort verlauten lassen, daß auch der Landadel zugegen sein würde. Das machte den Abend um etliches eleganter, und der eigene Mann sah bereits besänftigt aus. Ei, und noch kein Wort über ausstehende Rechungen.
    Doch eines gehörte sich nun wirklich nicht: Die kleinen Mädchen von Kendall durften an diesem Abend wie Erwachsene mit an der Tafel sitzen, auch wenn sie sich zugegebenermaßen ausnehmend gesittet benahmen, abgesehen davon, daß sie sich gegenseitig knufften, als der gutaussehende Knappe des alten Ritters in ihre Richtung blickte. Ehre, wem Ehre gebührt, diese unerwartet guten Manieren hatte ihnen Mistress Wengrave beigebracht und sich damit ein Anrecht auf einen Stehplatz im Himmel erworben – oh, meine Liebe, habt Ihr nicht davon gehört. Wenn Ihr wüßtet, Ihr
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher