Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Vision

Die Vision

Titel: Die Vision
Autoren: Judith Merkle-Riley
Vom Netzwerk:
Beklommenheit, als er mit einem Text aus dem Evangelium anhob: »In quorum manibus iniquitates sunt; dextra eorum repleta est muneribus«, was soviel bedeutete wie ›welche mit bösen Tücken umgehen, und nehmen gerne Geschenke‹. Doch das Ganze löste sich in großem Wohlgefallen auf, als er durchblicken ließ, daß es heute abend über die Advokaten hergehen solle.
    »Advokaten?« knurrte Sir Hubert. »Mein Gott, bei Advokaten könnte ich auch ein Wörtchen mitreden. Ich glaube, das sagt mir denn doch zu.«
    »Advokaten?« wandte sich Sir Thomas an Master Wengrave. »Was kann der uns noch über diese Schurken erzählen? Na los, Mann!«
    »Oh, das Gesetz, wie ist es doch groß und gewaltig und gehet gemächlich den Gang aller Dinge, doch ohn' Gunst und ohn' Geld gefällt es gar wenig«, deklamierte der Dichter.
    »Euer Kontrakt ist also für nichtig erklärt worden?« forschte Master Wengrave.
    »Woher wißt Ihr das?« erwiderte Sir Thomas sarkastisch. »Die andere Seite hat einen silbernen Pokal und einen Hut voller Florin gestiftet.«
    »Tja. Bitterkeit führt zu nichts. Erhöht einfach Eure Preise.«
    »Führt Gelehrsamkeit und Gewinnsucht gar glückhaft zusammen –« trug der Dichter vor, und Sir Thomas und Master Wengrave ließen von ihrem Thema ab und spendeten den wohlgesetzten Worten Master Wills Beifall.
    »Hört! Hört! Wohl gesprochen, Herr Dichter!« Sir Thomas hatte seine übliche Ernsthaftigkeit vollkommen abgelegt.
    »Natürlich muß ich das Ganze noch erheblich ausfeilen«, hörte er den Dichter bescheiden zu den Gelehrten am niedrigeren Tisch sagen, die ihm ebenfalls Beifall spendeten.
    »Keine Zeile ändern, sag' ich!« rief Sir Thomas. »Sagt an, wo wohnt Ihr. Ich lasse Euch morgen früh einen neuen Wollumhang schicken.«
    »Hausvater!« mahnte ihn seine gute Frau Emma.
    »Hör auf, mich zu ›behausvatern‹! Ich sage dir, an dem Zeug ist etwas dran«, verkündete Sir Thomas.
    Danach konnte nichts mehr schiefgehen, selbst als Roberts witziges Sonett auf einen treulosen Florin Sir Hugo zu dem Ausspruch veranlaßte: »Kein Geld? Ei, das ist kein Thema für eine hehre Seele. Und nicht ein einziges Symbol hat der Kerl gebracht!« Damit kam er mühsam auf die Beine.
    Auf Gregorys Miene stand Entsetzen zu lesen: Der gefürchtete Augenblick war gekommen. Er verdrehte die Augen zu Margaret, wie ein erschrockenes Pferd, das durchgehen will, doch sie legte ihm beschwichtigend die Hand auf den Arm, während er den ganzen Becher mit einem Zug hinunterstürzte. Bei Sir Hugos ersten Reimpaaren stieß der alte Sir Hubert einen Schrei aus wie ein verwundeter Bär.
    »Verrat, bei Gott! Das ist eine Krankheit! Was zum TEUFEL ist in ihn gefahren? Gilbert, das ist deine Schuld –« Sir William legte dem alten Mann fest die Hand auf den Arm, damit er nicht aufstehen und zu Gewalttätigkeiten schreiten konnte, und reichte ihm einen vollen Becher, daß er dem Beispiel seines zweiten Sohnes folgen konnte.
    Die Diele geriet in Aufruhr, ein Raunen ging durch die Menge, als Hugo das Werk vortrug, das er zu höchster Vollkommenheit ausgefeilt hatte.
    »Worum geht es, worum geht es, lieber Master Barton?«
    »Mpf. Das Französisch klingt anders als in meinen Verträgen –, sehr blumig.«
    »Aber was sagt er?« beharrte Mistress Barton.
    »Hm – eine hehre – nein, eine wahrhaft hehre Seele – läßt sich nicht in Mauern aus Stein einsperren –«
    »Ei, es handelt von seinem Bruder! Wie rührend, wie edelmütig von ihm!«
    »– und – äh, Gedichte flattern frei am Himmel wie – hm, Vögel. Etwas, etwas – ist unsterblich.«
    »Oh, wie reizend!« rief Mistress Barton und wischte sich die Augen. Ein paar andere taten es ihr nach, denn der glühende und selbstlose Tribut eines preux chevalier hat stets etwas Anrührendes.
    »Mein Gott, Robert, kein Wunder, daß sich Gregory vor seiner Familie verstecken wollte«, sagte Nicholas, der immer noch rosig aussah und sich die Tränen aus den Augen wischte.
    »Nicht zu fassen, daß er diesen hehren Geist die ganze Zeit vor uns versteckt hat. Verdammt kleinlich von ihm«, pflichtete ihm Robert bei, dem die Seiten noch immer wehtaten und der den Kopf auf den Tisch gelegt hatte.
    »Dafür kann es nur eine Rache geben«, verkündete Jankyn.
    »Und die wäre?« fragten die anderen im Chor, da sie wußten, daß kein Mensch sie verstand, wenn sie Latein sprachen.
    »Ei, ich vertone das Gedicht, und dann singen wir es ihm vor, falls er es wagen sollte, seinen Fuß noch einmal
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher